Zeitbilder 4, Schulbuch

158 Stanko riecht nach Knoblauch. Er stinkt, sagen sie in der Klasse. Tschusch, sagen sie in der Pause zu ihm. (Christine Haidegger, Die Spielregeln) Die Spielregeln Stanko lehnt an der kühlen Mau- er. Es ist Mai. Zu Hause würde er dem Großvater beim Pflügen helfen. Hier ist der Himmel verhangen. Au- tos fahren vorbei. Stanko kann sich an die vie- len Autos nicht gewöhnen. Seit drei Wochen ist er hier beim Vater und der Mutter. Die kleinen Schwestern sind beim Großvater und der Tan- te zurückgeblieben. Seit drei Jahren arbeitet der Vater hier auf der Baustelle, seit einem Jahr ist nun auch die Mutter hier. Sie ist Abwäscherin in einem Lokal. Sie sprechen beide kaum Deutsch. Seine Klassenkameraden kommen in den Hof. Sie tragen schöne Turnanzüge. Stanko trägt alte Jeans und einen schmuddeligen Pullover. In der Klasse rücken alle von ihm ab. „Er stinkt“, sagen sie. Erst hat er gedacht, das wäre sein Name. „Erstinkt“, statt „Stanko“. Alles ist hier anders, warum nicht auch sein Name. Die Klasse läuft geschlossen auf den Sportplatz. „Komm, komm“, ruft der Lehrer. Zögernd löst sich Stanko von der Mauer und läuft langsam hinter- her. Schrill pfeift der Lehrer, der einen Trainings- anzug anhat. Alle stehen still. Stanko sieht gierig den schönen schwarzweißen Lederball unter dem Arm des Lehrers. Anstoß. Im Nu sind alle verteilt und laufen dem Ball hinterher. Nein, zwei Jungen sitzen außerhalb des Spielfeldes. Alle anderen spielen Fußball, der Lehrer ist Schiedsrichter. Stanko fühlt ein Krib- beln in den Beinen. Kein Spielfeld gab’s zu Hause, aber die steinige Wiese hinter dem Kaufladen war ebenso gut und Stanko der beste Linksaußen der ganzen Gegend (...). Er riecht den Staub und hört das trockene Gras unter seinen Füßen knistern, hört die Zurufe der Freunde (...). Der Lehrer ruft: „Stanko! Stanko!“ Langsam er- hebt er sich, geht hin. Der Lehrer pfeift, das Spiel ist unterbrochen. Er spricht schnell auf den Spieler ein. Stanko versteht nicht, sieht aber finstere Mie- nen. „Tschusch“ und „er stinkt“ flüstert es. Der Lehrer wird böse. Er drückt Stanko den Ball in die Hand. „Spiel mit“, heißt das. Karl, der Kleine aus der letzten Bank, geht vom Platz. Stanko soll für ihn Verteidiger spielen. Der Lehrer pfeift, das Spiel geht weiter. Sooft Stanko an den Ball zu kommen versucht, wird er gefoult. Irgendein Bein ist immer zur Stel- le, über das er stolpert, ein Stoß in die Rippen im Vorbeilaufen. Stanko schwitzt in seinem Pullover. Ohne Pause werden die Seiten gewechselt. Stanko läuft ins Leere. Drei, vier Spieler drängen ihn vom Ball. Er stolpert öfters. Sein rechtes Knie ist blutig, man sieht es durch die nun zerrissenen Jeans. Bei- de Ellbogen sind aufgeschürft. Den blauen Fleck von dem Tritt in die Hüfte wird niemand sehen. Stanko beißt sich auf die Lippen. Sie spielen be- wusst unfair, so viel versteht er. Der Lehrer bemerkt nichts. Stanko ballt die Fäuste. Zu Hause gilt er als Mann unter Männern. Hier in diesem Land wird es ihm ergehen wie dem Vater. Hilflos, ausgeliefert, gedemütigt. Man braucht eine Sprache nicht zu verstehen, um die Verachtung zu spüren, die sich ausdrückt, und den Hass. Der Ball fliegt in seine Richtung. Stanko hebt den Fuß, um ihn aufzuneh- men. Ein Tritt in die Kniekehle bringt ihn zu Fall. Ein Paar fast neuer, fester Fußballschuhe halten kurz vor seinem Gesicht an. Stanko hebt den Kopf. Ein Pfiff; ein Tritt ins Gesicht. Die Schuhe laufen dem Ball nach Etwas Staub liegt in der Luft. Stanko liegt mit dem Gesicht auf dem trockenen Rasen. Endlich hat er begriffen. Sein bloßes Dasein ist ein Verstoß gegen die Regeln eines Spiels, das nichts mit Fußball zu tun hat. „Wie war es in der Schule?“, fragt der Vater abends in der Heimatsprache. Stanko öffnet den verschwollenen Mund. „Wie immer“, antwortet er. „Wie immer. Ich habe dazugelernt.“ Du bist dran • Stell dir vor, du wärst Stanko. Du schreibst einen Brief an deinen besten Freund Mirko und berichtest darin von deinen Erlebnissen und Gefühlen. • Berichte, ob du selber schon ähnliche Erfahrungen gemacht hast wie Stanko oder ob du jemanden kennst, der so etwas erlebt hat. Diskutiert, wie es zu solchen Situationen kommen kann. Leseecke Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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