Literaturräume, Schulbuch

98 DIe lIteratur Der aufklärung (1720–1770) Gestützt auf seine Zivilisation, hat Europa über Jahrhunderte anderen Völkern oder ganzen Kontinenten seine Kulturvorstellungen übermittelt. Dieser „Eurozentrismus“ ist im Schwinden, Migrationsbewegungen zeigen die Vielfalt der Zivilisationen, ihrer Gewohnheiten und Lebensformen. Die folgenden Textauszüge präsentieren Anstöße zumThema „Toleranz in der Begegnung mit anderen Denkformen und Kulturen“. Eine Vielzahl an Lebensformen Der kurze Ausschnitt aus den „Essais“ von Michel de Montaigne (1533–92), einem scharfen Kritiker von Vor­ urteilen, trägt den Titel „Über die Gewohnheit“. Montaigne meint, dass die Gewohnheiten uns oft den Blick auf die Absonderlichkeiten unseres eigenen Verhaltens nehmen, „während wir doch alle Absonderlichkeiten, wenn sie uns von fremden Ländern berichtet werden, als augenfällige Scheußlichkeiten empfinden. […] Die Gewohnheit trübt das Auge unsres Urteils. […| Jeder hält innerlich die Meinungen und Sitten in Ehren, die um ihn herum gang und gäbe sind und gutgeheißen werden. In nichts geben uns die Barbaren mehr Anlass zur Verwunderung als wir ihnen, wie jeder eingestehen müsste, wenn jeder nach Durchsicht der Beispiele aus den neu entdeckten Ländern sich über die eigenen zu beugen und sie an jenen vorurteilsfrei zu messen wüsste. […] Es gibt Völker, bei denen man den König nur über Dritte ansprechen darf, abgesehen von seiner Frau und seinen Kindern. Und in ein und demselben Land stellen die Jungfrauen ihre Schamteile unverhüllt zur Schau, die verheirateten Frauen aber bedecken und verhüllen sie sorgfältig. Damit in gewisser Beziehung steht anderswo die Sitte, die Keuschheit bloß im Dienst der Ehe hochzu- halten, während die ledigen Mädchen sich nach Belieben hingeben dürfen und es ihnen, wenn geschwängert, frei- steht, durch geeignete Arzneien die Leibesfrucht völlig offen abtreiben zu lassen. […] Hier lebt man von Menschen- fleisch, dort ist es fromme Kindespflicht, den eigenen Vater umzubringen, wenn er ein bestimmtes Alter erreicht hat; anderswo entscheiden die Väter, während die Kinder noch im Mutterleib sind, welche von ihnen behalten und groß- gezogen werden sollen und welche auszusetzen und zu töten sind; wiederum anderswo leihen die alten Ehemänner ihre Frauen der Jugend, sich ihrer zu bedienen, und noch mal anderswo sind diese, ohne dass es sündhaft wäre, Ge- meinbesitz, ja, in einem Land tragen sie gar als Ehrenzeichen soviel schön gefranste Quasten am Saum ihrer Röcke, wie sie Männern beigewohnt haben. […]“ Wo endet Toleranz? Der nachstehende Auszug aus dem Text „Die Niederlage des Denkens“ des französischen Denkers Alain Finkiel­ kraut aus dem Jahr 1987 geht von der Forderung aus, die Vielfalt von kulturellen und religiösen Formen zu ach­ ten. Doch das Gebot der Toleranz gegenüber den Ausdrucksformen anderer Kulturen sieht Finkielkraut manch­ mal in einem Spannungsfeld zum Begriff der Menschenrechte: „Gibt es eine Kultur da, wo man über Delinquenten körperliche Züchtigungen verhängt, wo die unfruchtbare Frau verstoßen und die Ehebrecherin mit dem Tode be- straft wird, wo die Aussage eines Mannes so viel wert ist wie die von zwei Frauen, […] wo die Frauen beschnitten werden, wo die Mischehe verboten und die Polygamie erlaubt ist? […] Den Fremden als Individuum zu behandeln, bedeutet nicht ihn zu verpflichten, alle seine Verhaltensweisen auf die bei den Einheimischen geltenden Lebens- formen auszurichten. […] Der Geist der europäischen Neuzeit findet sich sehr gut mit der Existenz von nationalen oder religiösen Minderheiten ab, unter der Bedingung, dass diese sich […] aus gleichen und freien Einzelpersonen zusammensetzen. Eine solche Forderung hat zur Folge, dass alle Bräuche, die die Grundrechte der Person verhöhnen – auch die, deren Wurzeln weit in die Geschichte zurückreichen – als ungesetzlich erachtet werden.“ AUFGABE > Würden Sie, mehr als 400 Jahre nach Montaigne, die Unparteilichkeit seiner Bewertung nachvollziehen können? Definieren Sie für sich die Vorund Nachteile der Neutralität Montaignes. Bei welchen der zitierten Beispiele wären Sie nicht mehr unparteiisch? AUFGABEN > Was müssen laut Finkielkraut Kulturen gewährleisten? > Oft wird verlangt, der „Fremde“ habe die Lebensformen der „Einheimischen“ zu übernehmen; welche Position nimmt Finkielkraut dazu ein? Resümieren Sie auf einem Stichwortzettel die Thesen des Autors! Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=