Literaturräume, Schulbuch

96 DIe lIteratur Der aufklärung (1720–1770) Der fokus Das Erdbeben von Lissabon und der Tod des Optimismus Unsere Welt – die beste aller möglichen Welten? Gottfried Wilhelm von Leibniz (1646–1716), Jurist, Mathematiker, Physiker und Philosoph, ist einer der letzten Universalgelehrten. Sein philosophischer Grundgedanke: Die Welt, in der wir leben, ist die bes­ te aller möglichen Welten. Sein „Beweis“: Die Welt ist von Gott ge­ schaffen, Gott aber ist weise, allmächtig, allgütig. Er hätte deshalb kei­ ne andere Welt schaffen können als die beste. Leibniz wörtlich in sei­ nem Werk „Theodizee“ (1710): „Er [= Gott] hat es getan, also hat er es auch gut getan.“ Alles befindet sich in einer von Gott festgelegten Har­ monie. Natürlich gibt es Übel in der Welt, Schmerz, Tod, Not, Verbre­ chen. Aber, so Leibniz, woher wissen wir denn, dass die Glückseligkeit der Menschen der Hauptzweck der Welt ist? Und überdies, argumen­ tiert Leibniz weiter, ist es sicher, dass nur wenige Menschen „beim He- rannahen des Todes nicht zufrieden wären, das Leben noch einmal […] zu durchleben“. Leibniz’ Standpunkt von der besten aller möglichen Welten beeinflusste nicht nur die Aufklärung, sondern noch Goethe, Schiller und den Idealismus der Romantik. Lernt der Mensch, sich der Vernunft gemäß zu verhalten, dann hat er Grund optimistisch zu sein, auf den Fortschritt zu setzen, denn von Gott ist die Welt optimal ein­ gerichtet. Das Erdbeben von Lissabon Am 1. November 1755 um 9 Uhr 30 fand, wie die moderne Geologie rekonstruiert hat, 200 km vor der portugie­ sischen Küste ein Seebeben statt. 30 Minuten später überschwemmt der 15 Meter hohe Tsunami die Stadt Lissa­ bon: 15.000 Gebäude, 100 Kirchen, 40 Klöster, 300 Paläste werden zerstört. Brennende Lampen, Kochfeuer und Allerheiligenkerzen lösen einen verheerenden Brand aus. Drei Tage lang wütet das Feuer. Über 60.000 Menschen fallen dieser Katastrophe allein in Lissabon (300.000 Einwohner) zum Opfer. Tausende sterben in anderen Gebie­ ten. Die Flutwellen richten Schäden bis nach England an, in Frankreich, der Schweiz, sogar bis nach Finnland spürt man das Beben. An den Küsten Afrikas und in der Karibik gibt es zahlreiche Opfer. Eine der reichsten Städ­ te Europas, Symbol für optimistischen Wirtschaftsund Entdeckergeist, ist zerstört. Lissabon ist zerstört, die Strafprediger gewinnen an Boden Der Vernunftglaube der Aufklärung war vor allemmanchen Geistlichen ein Dorn im Auge. Im Erdbeben erschien nun ihrer Meinung nach der rächende Gott, der die Abkehr vom Glauben bestrafte. Lissabon war für die Predi­ ger ein guter Anknüpfungspunkt: Der ungeheure Reichtum hatte ihrer Meinung nach zu Sünden geführt. Gott habe nun durch die Zerstörung Lissabons der ganzen christlichen Welt seine Macht demonstriert und allen Sün­ dern vor Augen geführt, dass sie Buße tun müssten. Voltaire: Spott für die Theorie von der besten aller Welten Der französische Philosoph Voltaire (eigentlich Jean Marie Arouet, 1694–1778), einer der einflussreichsten Den­ ker des 18. Jahrhunderts, nahm ausführlich zu diesen Interpretationen des Erdbebens Stellung. In seinen beiden Werken „Gedicht über die Verheerung Lissabons“ und „Candide oder der Optimismus“ kritisierte er nicht nur die Behauptung von der sinnhaften Einrichtung der Welt, sondern stellte den optimistischen Fortschrittsgedan­ ken des Jahrhunderts als Ganzes in Frage. Voltaires Gedicht war so stark gefragt, dass innerhalb des ersten Jahres 20 verschiedene Ausgaben erschienen. Die Grundaussage: Das große Leid darf weder durch spitzfindigen philo­ sophischen Optimismus verklärt noch als Strafgericht interpretiert werden: INFO Die Theodizee Die Frage, wie ein mit allen positiven Eigenschaften versehener Gott das Übel in der Welt zulassen könne, – die so genannte Frage der Theodizee – wurde schon in der Antike besprochen. Von dem griechischen Philosophen Epikur (341–274) stammt eine besonders prägnante Formulierung dieses Problems: „Wenn er [= Gott] es will und nicht kann, ist er unfähig, was für Gott nicht zutrifft; wenn er kann und nicht will, ist er bösartig, was Gott auch fern liegt; wenn er weder will noch kann, ist er sowohl bösartig als auch unfähig und deshalb nicht Gott; wenn er es aber will und kann, was allein Gott zukommt, woher kommt dann das Übel? Und warum behebt er es nicht?“ Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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