Literaturräume, Schulbuch

94 DIe lIteratur Der aufklärung (1720–1770) Nathan: Und nur von seiten ihrer Gründe nicht. – Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte? Geschrieben oder überliefert! – Und Geschichte muss doch wohl allein auf Treu’ Und Glauben angenommen werden? – Nicht? – Nun, wessen Treu’ und Glauben zieht man denn Am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen? Doch deren Blut wir sind? doch deren, die Von Kindheit an uns Proben ihrer Liebe Gegeben? die uns nie getäuscht, als wo Getäuscht zu werden uns heilsamer war? – Wie kann ich meinen Vätern weniger Als du den deinen glauben? Oder umgekehrt. – Kann ich von dir verlangen, dass du deine Vorfahren Lügen strafst, um meinen nicht Zu widersprechen? Oder umgekehrt. Das nämliche gilt von den Christen. Nicht? – Saladin: Bei dem Lebendigen! Der Mann hat recht. Ich muss verstummen. Nathan: Lass auf unsre Ring’ Uns wieder kommen. Wie gesagt: die Söhne Verklagten sich; und jeder schwur dem Richter, Unmittelbar aus seines Vaters Hand Den Ring zu haben. […] Saladin: Und nun der Richter? – Mich verlangt zu hören, Was du den Richter sagen lässest. Sprich! Nathan: Der Richter sprach: […] Ich höre ja, der rechte Ring Besitzt die Wunderkraft beliebt zu machen; Vor Gott und Menschen angenehm. Das muss Entscheiden! Denn die falschen Ringe werden Doch das nicht können! – Nun: wen lieben zwei Von Euch am meisten? – Macht, sagt an! Ihr schweigt? […] – O, so seid ihr alle drei Betrogene Betrüger! Eure Ringe Sind alle drei nicht echt. Der echte Ring Vermutlich ging verloren. Den Verlust Zu bergen, zu ersetzen, ließ der Vater Die drei für einen machen. Saladin: Herrlich! herrlich! Nathan: Und also, fuhr der Richter fort, wenn ihr Nicht meinen Rat, statt meines Spruches, wollt: Geht nur! – Mein Rat ist aber der: ihr nehmt Die Sache völlig wie sie liegt. Hat von Euch jeder seinen Ring von seinem Vater: So glaube jeder sicher seinen Ring Den echten. – Möglich, dass der Vater nun Die Tyrannei des einen Rings nicht länger In seinem Hause dulden wollen! – Und gewiss, Dass er euch alle drei geliebt, und gleich Geliebt: indem er zwei nicht drücken mögen, Um einen zu begünstigen. – Wohlan! […] Es strebe von euch jeder um die Wette, Die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag Zu legen! […] 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 Ein Vorbild für die Figur des Nathan Schon in seinem frühen Stück „Die Juden“ hatte sich Lessing mit antisemitischen Tendenzen der Epoche befasst. In seiner Vorrede zu diesem Drama betonte er, das Stück sei das „Resultat einer sehr ernsthaften Betrachtung über die schimpfliche Unterdrückung, in welcher ein Volk seufzen muss, das ein Christ, sollte ich meinen, nicht ohne eine Art von Ehrerbietung betrachten kann.“ Lessings lebenslange Freundschaft mit dem jüdischen Gelehrten und Aufklärer Moses Mendelssohn (1729–86) verstärkte Lessings Argumentationen gegen den Antisemitismus. Mendelssohn hielt es für wichtig, die Juden in die westliche Kultur zu integrieren, doch durfte dies nach seiner Auffassung nicht um den Preis der Aufgabe des Judentums geschehen. Damit wurde er zum direkten Vorbild für die Figur des Nathan. AUFGABEN > Fassen Sie den Ausgangspunkt der Parabel und die Handlung des Vaters bis zu dessen Tod zusammen! Welche Problematik entsteht zwischen den Söhnen, wie versuchen sie diese zu lösen? Resümieren Sie den Rat des Richters an die Söhne! An welcher Stelle weist der Richter ausdrücklich darauf hin, dass einzig praktisches Handeln den Wert der Ringe ausmacht? Bestimmen Sie die Textstelle, die betont, dass Religionen geschichtlich begründet und überliefert sind und auf Traditionen beruhen, die nicht leichtfertig abgelegt werden können! > Der Toleranzgedanke taucht im „Nathan“ an vielen Stellen, nicht nur in der „Ringparabel“ auf. Schreiben Sie in freier Form Ihre Gedanken zu den beiden folgenden Zitaten nieder: „ Ich weiß, […] dass alle Länder gute Menschen tragen“ (Nathan). „ Ich habe nie verlangt, dass allen Bäumen eine Rinde wachse“ (Saladin). Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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