Literaturräume, Schulbuch
Der Inhalt: Juden, Christen, Muslime sind Mitglieder einer Familie Lessings „Nathan“, vom Autor unter bewusstem Verzicht auf die Gattungsbezeichnungen als „dramatisches Ge dicht“ bezeichnet, könnte man als multikulturelle Familiengeschichte lesen. Sie spielt während des 3. Kreuzzuges im Jahr 1192 in Jerusalem. Der Jude Nathan entdeckt im Laufe der Ereignisse, dass der vom islamischen Sultan Saladin begnadigte „Tempelherr“, ein christlicher Kreuzritter, der Nathans Pflegetochter Recha aus einem bren nenden Haus gerettet hat, der Bruder Rechas ist. Beide sind, wie sich schließlich zeigt, die Kinder von Saladins verstorbenem Bruder. Mohammedanischer Sultan, christlicher Ritter, Pflegetochter eines Juden können sich als Mitglieder einer Familie umarmen. Die „Ringparabel“ ist der Kern Genau in der Mitte des Dramas liegt die „Ringparabel“. Saladin hat Nathan zu sich gebeten, um von ihm Geld zu borgen, vor allem aber um dessen berühmte Vernunft zu testen. Saladins Frage an Nathan: Welche der drei Reli gionen – Judentum, Christentum, Islam – ist die „wahre“ Religion? Nathans Antwort erfolgt in Form eines Gleich nisses, der berühmten „Ringparabel“: Ein Mann besitzt einen Ring, der nicht nur sehr wertvoll ist, sondern auch die geheime Kraft hat, seinen Träger vor Gott und den Menschen „angenehm zu machen“ . Die Kraft des Ringes ist aber kein Automatismus und keine Aufforderung zur Passivität. Denn der Ringträger muss „Sanftmut“ , „Wohltun“ zeigen, „von Vorurteilen frei“ sein. Vererbt wird der Ring immer dem „geliebtesten“ der Söhne. Das bewährt sich über Generationen. Doch schließlich geht der Ring über auf einen Vater, der drei Söhne hat, die ihm alle gleich lieb sind. Deshalb verspricht er allen dreien den Ring. 93 Der leseraum Nathan: […] Das ging nun so, solang es ging. – Allein Es kam zum Sterben, und der gute Vater Kömmt in Verlegenheit. Es schmerzt ihn, zwei Von seinen Söhnen, die sich auf sein Wort Verlassen, so zu kränken. – Was zu tun? – Er sendet insgeheim zu einem Künstler, Bei dem er, nach dem Muster seines Ringes, Zwei andere bestellt, und weder Kosten Noch Mühe sparen heißt, sie jenem gleich, Vollkommen gleich zu machen. Das gelingt Dem Künstler. Da er ihm die Ringe bringt, Kann selbst der Vater seinen Musterring Nicht unterscheiden. Froh und freudig ruft Er seine Söhne, jeden insbesondre; Gibt jedem insbesondre seinen Segen, – Und seinen Ring, – und stirbt. – Du hörst doch, Sultan? Saladin: (der sich betroffen von ihm gewandt). Ich hör’, ich höre! – Komm mit deinem Märchen Nur bald zu Ende. – Wird ’ s? Nathan: Ich bin zu Ende. Denn was noch folgt, versteht sich ja von selbst. Kaum war der Vater tot, so kömmt ein jeder Mit seinem Ring, und jeder will der Fürst Des Hauses sein. Man untersucht, man zankt, Man klagt. Umsonst; der rechte Ring war nicht Erweislich; – (nach einer Pause, in welcher er des Sultans Antwort erwartet) Fast so unerweislich, als Uns itzt – der rechte Glaube. Saladin: Wie? das soll Die Antwort sein auf meine Frage? Nathan: Soll Mich bloß entschuldigen, wenn ich die Ringe Mir nicht getrau’ zu unterscheiden, die Der Vater in der Absicht machen ließ, Damit sie nicht zu unterscheiden wären. Saladin: Die Ringe! – Spiele nicht mit mir! – Ich dächte, Dass die Religionen, die ich dir Genannt, doch wohl zu unterscheiden wären. Bis auf die Kleidung, bis auf Speis’ und Trank! Nathan auf der Bühne INFO Viele deutsche Bühnen eröffneten nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Spielbetrieb mit „Nathan“. Das Stück war von der NSDiktatur von den Bühnen verbannt, Lessing als „Judengenosse“ beschimpft worden. Nach dem Ende des NSRegimes durfte man sich wieder mit Toleranz und Humanität jenseits religiöser, rassischer oder nationaler Unterschiede identifizieren. Der Dialog der Religionen wird heute wieder zunehmend schwieriger. In diesem Umfeld erhält auch „Nathan“ große Bedeutung. Dies zeigen die mehr als 30 „Nathan“Aufführungen auf deutschsprachigen Bühnen in den letzten Jahren. Sehr unterschiedlich ist die Art, wie Schauspieler die Figur des Nathan in der Ringpara belszene spielen: vom souveränen Weisen bis zu einem, der zu Tode geängstigt ist, weil Saladin ihn hat rufen lassen, und aus Angst, der Sultan könne ihn töten lassen, die „Ringparabel“ erfindet. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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