Literaturräume, Schulbuch

92 DIe lIteratur Der aufklärung (1720–1770) Als Emilia ihren Vater auf die Tat des Verginius in Livius’ Bericht hinweist, tötet Odoardo seine Tochter: Emilia: […] Ehedem wohl gab es einen Vater, der seine Tochter von der Schande zu retten, den ersten, den besten Stahl in das Herz senkt […]. Aber alle solche Taten sind von ehedem! Solcher Väter gibt es keinen mehr! Odoardo: Doch, meine Tochter, doch! (indem er sie durchsticht) Gott, was hab’ ich getan! (Sie will sinken, und er fasst sie in seine Arme.) Emilias Tod bleibt folgenlos Wie Verginia wird auch Emilia geopfert. Im antiken Rom führte der Tod Verginias zu einer Revolution des Volkes gegen den Willkürherrscher Appius Claudius. Was im Rom der Antike einen politischen Aufstand auslöste, bleibt jedoch im Absolutismus folgenlos. Der Prinz ist zwar vom Tod Emilias betroffen – laut Lessings Szenenanweisung betrachtet er die Tote „mit Entsetzen und Verzweiflung“ –, er schiebt die Verantwortung jedoch auf seinen Sekre­ tär. Eine Untersuchung des Überfalls ist in der absolutistischen Staatsordnung nicht vorgesehen. Nur die religiöse Hoffnung auf Vergeltung bleibt: Er erwarte ihn vor dem „Richter unser aller!“ , wirft Odoardo dem Prinzen entge­ gen. Rechtliche oder politische Folgen gibt es nicht. Unschuld als Abgrenzung gegenüber dem verdorbenen Adel Emilias Selbstopferung ist unter den Wertmaßstäben des 21. Jahrhunderts ohne Zweifel nur sehr schwierig zu begreifen. Die Bewahrung jungfräulicher Unschuld um den Preis des Lebens wird in unserer Kultur wohl eher skeptisch bewertet. Für das Bürgertum des 18. Jahrhunderts war hingegen die Bewahrung weiblicher Unschuld als demonstrative Abgrenzung gegen den für moralisch verdorben gehaltenen Adel wichtig und verständlich. Elfriede Jelinek schreibt „Emilia Galotti“ weiter Für die Aufführung der „Emilia“ im Schauspielhaus Graz 2004/2005 schrieb die österreichische Nobelpreisträge­ rin Elfriede Jelinek einen eigenen Zusatz. Jelinek sieht das Drama als Beispiel für die Schwierigkeit, der Verführung durch die Mächtigen zu widerstehen. Jelineks Epilog endet mit den folgenden Worten: „Die Menschen sollen ihr gespieltes Widerstreben gegen einen Führer für ein paar Zuckerln sofort aufgeben. Sie sind immer dazu bereit. Sie sind alle hingebungsvoll wie Frauen, sie sind alle Frauen, auch wenn sie gar keine sind.“ 3 Welche Religion ist die „wahre“ Religion? Gotthold Ephraim Lessing: „Nathan der Weise“ (1779) Wie umgeht man die Zensur? 1778 eskaliert der Streit, den Lessing mit dem protestantischen Pfarrer Goeze ausficht. Vernunft und Kritik müssten auch in der Religion ihren Platz haben, schreibt Lessing gegen Goeze. Goezes Anhänger schalten die Politik ein. Lessings Landesherr, der Herzog von Braunschweig, verbietet Lessing mit Beschluss vom 3. August 1778, seine theologischen Schriften künftig ohne Zensur drucken zu lassen. Lessings Reaktion: Er wendet sich einem schon jahrelang gehegten Schreibplan zu, um zu sehen, ob man ihn auf seiner „alten Kanzel, dem Theater, wenigstens noch ungestört will predigen lassen“ . Schon lange hatte er die Ringparabel aus Boccaccios Novellensammlung „Decamerone“ (1349–52) dramatisieren wollen. Die Form: Lessing führt den Blankvers ein „Nathan“ ist in Blankversen geschrieben, reimlosen fünffüßigen Jamben. Das Vorbild dafür ist Shakespeare. Die deutschen Dramatiker entdecken im Zuge der ShakespeareEuphorie des 18. Jahrhunderts diesen Vers für sich. Ausgangspunkt für die Bezeichnung ist der englische Begriff „blank“ im Sinne von reimlos. Mit Lessing wird der Blankvers zum klassischen Dramenvers. Gotthold Ephraim Lessing 2 4 6 8 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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