Literaturräume, Schulbuch

91 Der leseraum 2 „Wer über gewisse Dinge nicht den Verstand verliert, der hat keinen zu verlieren.“ Gotthold Ephraim Lessing: „Emilia Galotti“ (1772) Das Motiv: Ein Vater tötet seine Tochter Lessings bürgerliches Trauerspiel nimmt ein Motiv des römischen Historikers Livius auf. Die jungfräuliche Röme­ rin Verginia wird von ihrem Vater getötet, der darin den einzigen Weg sieht, sie vor der Verführung durch den mächtigen Adeligen Appius Claudius zu bewahren. Die Opferung Verginias führt zu einer Revolution des Volkes gegen den Adel. Lessing versetzt das Motiv in seine Zeit, allerdings nicht nach Deutschland, sondern als Schutz vor Zensur und Verbot nach Italien. Der Inhalt: die Willkür des Adels und die Chancenlosigkeit des Bürgermädchens Die Handlung spielt zwischen Morgen und Abend eines einzigen Tages. Prinz Gonzaga, liiert mit der Gräfin Or­ sina, verliebt sich in die Bürgerstochter Emilia Galotti, deren Bild er gesehen hat. Emilia ist mit dem Grafen Appi­ ani verlobt. Marinelli, der Sekretär des Prinzen, lässt mit dessen unausgesprochenem Einverständnis das Paar von „Räubern“ überfallen, Appiani töten, Emilia scheinbar retten und auf das Schloss des Prinzen bringen. Dort ist sie seinen Annäherungen ausgeliefert. Sie ist nicht sicher, ob sie den Verführungskünsten des Prinzen wird widerste­ hen können. Denn weder die elterliche Erziehung noch das gesellschaftliche Umfeld hatten Emilia bisher als selbständige und bewusst handelnde Person gelten lassen. Und da sie niemals Gelegenheit hatte, bewusst zu handeln, ist sie auch in dieser Extremsituation nicht in der Lage, sich eine Lösung vorzustellen. Emilia bittet ihren Vater Odoardo, der auf das Schloss Gonzagas gekommen ist und den Zusammenhang zwischen dem Überfall und dem Prinzen durchschaut hat, sie zu töten. Sie sieht keinen anderen Weg, ihre Unschuld, die sie auch als Zeichen der moralischen Überlegenheit gegenüber dem Prinzen wertet, zu bewahren. Emilia: Mir, mein Vater, mir geben Sie diesen Dolch. Odoardo: Kind, es ist keine Haarnadel. Emilia: So werde die Haarnadel zum Dolche! – Gleichviel. Odoardo: Was? Dahin wär‘ es gekommen? Nicht doch; nicht doch! Besinne dich. – Auch du hast nur ein Leben zu verlieren. Emilia: Und nur eine Unschuld! Odoardo: Die über alle Gewalt erhaben ist. – Emilia: Aber nicht über alle Verführung. – Gewalt! Gewalt! Wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt. – Ich habe Blut, mein Vater; so jugend- liches, so warmes Blut […]. Auch meine Sinne sind Sinne. Ich stehe für nichts. […] Kühle Aufnahme des Dramas INFO Das Drama wurde vom Publikum reserviert aufgenom­ men. Dass Emilia sterben musste, verstörte. Die Ermordung des Prinzen hätte das Publikum wohl eher zufrieden gestellt. Die geringe Resonanz der „Emilia“ stand ganz im Gegensatz zur Aufnahme von Lessings erstem bürgerlichen Trauerspiel, der 1755 entstan­ denen „Miß Sara Sampson“. Auch Sara scheitert mit ihren „bürgerlichen“ Werten – Familie, Anständigkeit, Ehe – gegenüber den Intrigen der Adelsgesellschaft. Aber das Publikum von „Miß Sara Sampson“ bangte mit und war zu Tränen gerührt. „Miß Sara Sampson“ wurde zu einer Sternstunde der „Empfindsamkeit“, die als Ausgleich zur Vernunftdominanz gefühlsbetonte Identifikation mit literarischen Figuren suchte. 2 4 6 8 10 12 14 AUFGABE > Ordnen Sie die zitierten Aphorismen jeweils in eine der folgenden Kategorien ein: Religionskritik, politische Kritik, menschliche Schwächen und Skurrilitäten, Denken und Bildung, Kritik an Vorurteilen, mangelnde Persönlichkeit, Mahnung, das Leben zu nützen. Sollten Sie für Ihre Zuordnung neue oder andere Kategorien benötigen, führen Sie diese ein! Arbeiten Sie in Gruppen und vergleichen Sie Ihre Zuordnung mit denen der anderen Gruppen. Nur zu Prüfzwecken – Eig ntum des Verlags öbv

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