Literaturräume, Schulbuch

90 DIe lIteratur Der aufklärung (1720–1770) Der leseraum 1 „Ein Verstand wie ein geschliffenes Rasiermesser“ Georg Christoph Lichtenberg: „Die Sudelbücher“ (ab 1765) Scharfe Details Lichtenberg, Universitätsprofessor für Mathematik und Physik, ist ein ge­ nauer Beobachter von Details. Wie die Menschen reden, denken, han­ deln, das interessiert ihn. Seine Beobachtungen verdichtet er zu scharfen Analysen. Die Wertschätzung Lichtenbergs zieht sich durch die Jahrhun­ derte. Der Philosoph Friedrich Nietzsche meinte, Lichtenberg „verdient, wieder und wieder gelesen zu werden“ , der Sprachkritiker Karl Kraus be­ hauptete, „Lichtenberg gräbt tiefer als irgendeiner“ , und der Satiriker Kurt Tucholsky nannte ihn einen „Kerl […], der einen Verstand gehabt hat wie ein scharf geschliffenes Rasiermesser, ein Herz wie ein Blumengarten, ein Maulwerk wie ein Dreschflegel, einen Geist wie ein Florett“ . ImMittelpunkt der heutigen Anerkennung stehen die „Sudelbücher“, eine Sammlung tausender Aphorismen, die erst nach seinem Tod entdeckt wurden. Im Folgenden finden Sie eine Auswahl: • Der Mensch liebt die Gesellschaft, und sollte es auch nur die von einem brennenden Rauchkerzchen sein. • Ist es nicht sonderbar, dass die Menschen so gerne für die Religion fechten und so ungerne nach ihren Vorschriften leben? • Ein Buch ist ein Spiegel, wenn ein Affe hineinguckt, so kann freilich kein Apostel heraussehen. • Ich bin überzeugt, man liebt sich nicht bloß in andern, sondern hasst sich auch in andern. • Es ist sehr gefährlich, […] in Dingen Recht zu haben, wo große Leute Unrecht haben. • Es gibt für mich keine gehässigere Art Menschen als die, welche glauben, dass sie bei jeder Gelegenheit […] witzig sein müssten. • Es gibt Leute, die so wenig Mut haben etwas zu behaupten, dass sie sich nicht getrauen zu sagen, es wehe ein kalter Wind, so sehr sie ihn auch fühlen möchten, wenn sie nicht vorher gehört haben, dass es andre Leute gesagt haben. • Glauben Sie, dass es je in der Welt anders war als jetzt? Glauben Sie, dass Schlehen- hecken Orangen getragen haben? Nein. Gut, und Sie glauben, dass es Menschen gegeben habe, die Gottes Sohn gewesen? Ja! O du gerechter Gott, wohin kann dein Geschenk, die Vernunft, sinken? Was für ein schwaches Werkzeug die Vernunft ist! • Glaubt ihr denn, dass der liebe Gott katholisch ist? • In Hannover logierte ich einmal so, dass mein Fenster auf eine enge Straße ging […]. Es war sehr angenehm zu sehen, wie die Leute ihre Gesichter veränderten, wenn sie in die kleine Straße kamen, wo sie weniger gesehen zu sein glaubten, so wie einer hier pisste, der andere sich dort die Strümpfe band, so lachte der eine heimlich, und schüttelte der andere den Kopf. Mädchen dachten mit einem Lächeln an die vorige Nacht und legten ihre Bänder zu Eroberungen auf der nächsten großen Straße zurecht. • Nichts kann mehr zu einer Seelenruhe beitragen, als wenn man gar keine Meinung hat. • Wie glücklich würde mancher leben, wenn er sich um anderer Leute Sachen so wenig bekümmerte als um seine eigenen. Georg Christoph Lichtenberg Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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