Literaturräume, Schulbuch
85 Das funDament nachdem, wie er erzogen worden ist, was er gelesen hat, welche Autoritäten von ihm verehrt werden. Die dritte Art von Vorurteil entsteht durch die Gemeinschaft, in welcher der Mensch lebt. Das Denken der Masse wirkt auf den Einzelnen, der sich der herrschenden Meinung meist nicht zu entziehen wagt. Die letzte Art von Vorurteil entsteht durch die Traditionen. Als Wahrheit gilt das, was von alters her geglaubt wurde. Der Optimismus der Aufklärung: Naturbeherrschung und Glück durch Erziehung und Bildung Um die Menschen von Vorurteilen zu befreien, sie zur Vernunft anzuleiten und zu verantwortungsvollen Staats bürgern zu formen, braucht man Erziehung und Bildung. Für die optimistische Aufklärung ist sicher, dass mora lisches und vernünftiges Handeln lehrbar sind und vielfache positive Wirkung haben. Bildung und Wissen führen zum Verständnis und zur Beherrschung der Natur. Bildung und Wissen führen auch zu glücklichem Leben, das in der Befolgung sittlicher, der Vernunft nicht widersprechender Regeln besteht. Nahezu alle bedeutenden Erzie hungskonzepte ab dem 18. Jahrhundert berufen sich auf die Aufklärung. Erstmals wird das Kind nicht als „junger Erwachsener“ betrachtet, sondern als ein von diesem zu unterscheidendes und in diesen Unterschieden zu ach tendes Wesen. Einen bedeutenden Beitrag dazu liefert der Erziehungsroman „Emile“ (1762) von JeanJacques Rousseau (1712–78): Die Kindheit ist etwas uns vollkommen Unbe- kanntes – mit den falschen Vorstellungen, die wir davon haben, gehen wir mehr und mehr in die Irre. [...] Immer suchen sie im Kind den Erwachsenen, ohne zu bedenken, was ein Kind vorher ist. Die Natur will, dass Kinder Kinder sind, ehe sie zum Erwachsenen werden. Wollen wir diese Ordnung umkehren, so erzeugen wir frühreife Früchte, die weder Saft noch Kraft haben und bald verfault sein werden [...]. Toleranz, Menschenrechte und Weltbürgertum Der Glaube, dass jeder Mensch vernunftbegabt ist, führt auch zur Forderung, dem Menschen seine Würde nicht zu nehmen und Achtung vor seiner Weltsicht und Religion zu haben. Jedem Menschen kommen nach dem „Naturrecht“ gleiche Rechte zu: Recht auf Leben, auf Freiheit, auf Eigen tum. Nationale Überlegenheitsgefühle oder rassische Kli schees werden von den Aufklärern als Vorurteile gewertet. Die neue Staatstheorie: Der Staat beruht auf einem kündbaren Vertrag Im Gegensatz zur absolutistischen Staatslehre, die den Staat nach gottgewollter Ordnung in Herrscher und Untertanen eingeteilt sah, beruht für die Aufklärung der Staat auf menschlicher Übereinkunft. Er hat nur dann eine Berechti gung, wenn er sinnvoll für alle ist. Aufgabe des Staates ist es, das Eigentum zu schützen und den Bürgern Sicherheit zu ge währleisten. Diese Forderungen formuliert eines der maßge benden staatsphilosophischen Werke der Aufklärung, der „Gesellschaftsvertrag“ von JeanJacques Rousseau. Wie jeder Vertrag, so ist auch dieser Vertrag kündbar. Der Vertrags partner Volk kann bei Missverhalten des Herrschers den Ver trag mit ihm beenden. Der französische Philosoph Charles de Montesquieu (1689–1755) verlangte in seiner Staatsthe orie die Gewaltentrennung. Die Versammlung der Staats bürger, die Legislative, gibt die Gesetze und bestimmt die Staatsform. Der Herrscher ist nur ausführendes Organ und den Staatsbürgern Rechenschaft schuldig. Ein unabhängiger Richterstand spricht Recht bei Verletzungen der Gesetze. 2 4 6 8 10 Die erste Formulierung der Menschenrechte, INFO hervorgegangen aus den Aufklärungsideen, die den Menschen als vernunftbegabtes, zu individueller Bildung fähiges Wesen sehen, ist die amerikanische „Bill of Rights“ von 1776. Ihre Ideen bilden auch heute noch die Basis für die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“. Artikel 1: Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt […]. Artikel 18: Jeder hat das Recht auf Gedanken, Gewissensund Religionsfrei heit; dieses Recht schließt die Freiheit ein, seine Religion oder Überzeugung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu bekennen. Artikel 19: Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäuße rung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedanken gut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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