Literaturräume, Schulbuch

84 DIe lIteratur Der aufklärung (1720–1770) Christoph Martin Wieland: „Sechs Fragen zur Aufklärung“ (1789 ) „Was ist Aufklärung?“ […] Das Licht […], wovon hier die Rede ist, ist die Erkenntnis des Wahren und Falschen, des Guten und Bösen. Hoffentlich wird jedermann zugeben, dass es ohne diese Erkenntnis ebenso unmöglich ist, die Geschäfte des Geistes recht zu treiben, als es ohne materielles Licht möglich ist, materielle Geschäfte recht zu tun. […] Aber es gibt Leute, die in ihrem Werke gestört werden, sobald Licht kommt; es gibt Leute, die ihr Werk unmöglich anders als im Finstern, oder wenigstens in der Dämmerung, treiben können; – z. B., wer uns Schwarz für Weiß geben oder mit falscher Münze bezahlen oder Geister erscheinen lassen will; oder auch (was an sich etwas sehr Unschuldiges ist), wer gerne Grillen fängt, Luft- schlösser baut und Reisen ins Schlaraffenland […] macht, – der kann das natürlicherweise bei hellem Sonnenschein nicht so gut bewerkstelligen als bei Nacht oder Mondschein oder einem von ihm selbst zweckmäßig veranstalteten Helldunkel. Alle diese wackern Leute sind also natürliche Gegner der Aufklärung […]. An welchen Folgen erkennt man die Wahrheit der Aufklärung? […] Wenn es im Ganzen heller wird; wenn die Anzahl der denken- den, forschenden, lichtbegierigen Leute überhaupt […] immer größer, die Masse der Vorurteile und Wahnbegriffe zusehends immer kleiner wird; wenn die Scham vor Unwissenheit und Unvernunft, die Begierde nach nützlichen […] Kenntnissen und besonders, wenn der Respekt vor der menschlichen Natur und ihren Rechten unter allen Ständen unvermerkt zunimmt […]. Georg Christoph Lichtenberg: Aus dem „Sudelbuch L“ (1796–99) Man spricht viel von Aufklärung und wünscht mehr Licht. Mein Gott, was hilft aber alles Licht, wenn die Leute entweder keine Augen haben oder die, die sie haben, vorsätzlich verschließen? 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 2 4 Die erste Wurzel der Aufklärung: der Rationalismus Die Ursprünge aufklärerischen Denkens liegen in Frankreich und England. René Descartes (1596–1650) suchte eine sichere Basis für Wahrheit und Erkennen. Deshalb forderte er auf, zunächst an allem grundsätzlich zu zwei­ feln. Nur an einem, so Descartes, kann man nicht zweifeln: nämlich, dass ich es bin, der mit der Kraft meines Verstandes, der Ratio, an allem zweifeln kann: „Cogito ergo sum – Ich denke, also bin ich.“ Der Verstand befähigt den Menschen auch, die Natur und ihre Gesetzmäßigkeiten zu erkennen und damit die Natur zu beherrschen. Die zweite Wurzel der Aufklärung: der Empirismus John Locke (1632–1704) begründet den Empirismus. Unsere Erkenntnisse, die stets bewiesen, nachgeprüft, kriti­ siert werden müssen, entstehen aus den Beobachtungen, die wir mit unseren Sinnen machen. Die Erfahrung (Empirie) garantiert unser Wissen. Die dritte Wurzel der Aufklärung: die Befreiung von den Trugbildern Locke stützt sich auf die Ideen von Francis Bacon (1561–1626), der auf dem Weg zur Erkenntnis viele „Trug­ bilder“ sieht, die es zu vermeiden gilt. Heute würden wir diesen Begriff wohl mit „Vorurteil“ wiedergeben. Bacon unterscheidet vier Arten von täuschenden „Trugbildern“. Manche Vorurteile hängen mit der Natur des Men­ schen zusammen, sie sind ihm angeboren. Der Mensch neigt nach Bacon dazu, alles unter seinem Blickwinkel zu „vermenschlichen“. Die zweite Art von Vorurteilen liegt in der individuellen Persönlichkeit jedes Einzelnen, je AUFGABE > Versuchen Sie anhand der Texte eine Definition des Begriffs „Aufklärung“! Welche Texte unterstreichen die Schwierigkeit, Menschen für Aufklärung zu gewinnen? Welche Gründe werden dabei angeführt? Wo wird betont, dass es Gegner der Aufklärung gibt? Wie werden diese Gegner charakterisiert? Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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