Literaturräume, Schulbuch

76 die literatur des barock (1600–1720) Der Roman – hinein in die Welt und wieder heraus „Der Abentheuerliche Simplicissimus“ bietet eine Vielzahl von Erlebnissen, satirischen Attacken, wissenschaft­ lichen Abhandlungen, biographischen Details, Reisebeschreibungen, Schwänken und Narrenliteratur. Er beginnt mit dem Eintritt des einfältigen Kindes Simplex in die Welt und endet mit der Abkehr des Erwachsenen von ihr. Dazwischen liegen Simplex’ Erfahrungen, dass der Mensch ein Spielball des Glücks ist. Kriegsgreuel, erste Bildung, Anklage als Feindkundschafter, Auftreten in Narren- und Frauenkleidern, Auszeichnungen als Soldat, Gefangen­ nahme, Ehezwang und Ehebetrug, Liebesfreuden in Paris, Geisterbeschwörungen, Raub, Mord, Diebstahl, Ent­ stellung durch die Blattern, Reisen bis nach Moskau und Japan, Zwangsdienst auf türkischen Galeeren und schließlich eine Pilgerfahrt nach Rom, die ihn zum Überdenken seines Lebens anregt, bestimmen sein Dasein. Dann zieht Simplex Bilanz. Sie führt ihn zur Absage an die Welt, er wird Einsiedler. Ob er allerdings bis zu seinem Lebensende ein solcher bleiben wird, lässt der Autor offen. Der Mensch ist wandelbar. Auch wenn die Welt im materiellen und moralischen Elend liegt, bietet sie noch genug Verlockungen. Zwei Textstellen sollen Ihnen ei­ nen Einblick in den Roman geben. Text 1: Auszüge aus dem ersten Buch Simplex wird, nachdem sein Elternhaus geplündert worden ist, von einem Einsiedler gefunden, der sich übrigens am Ende des Romans als sein Vater erweist. [Aus dem ersten Buch, Kapitel 8] Einsiedel: Wie heißest du? Simplicius: Ich heiße Bub. Einsiedel: Ich sehe wohl, dass du kein Mägdlein bist, wie hat dir aber dein Vater und Mutter gerufen? Simplicius: Ich habe keinen Vater oder Mutter gehabt. Einsiedel: Wer hat dir denn das Hemd geben? Simplicius: Ei mein Meuder. Einsiedel: Wie heißet’ dich denn dein Meuder 1 ? Simplicius: Sie hat mich Bub geheißen, auch Schelm, ungeschickter Tölpel und Galgenvogel. Einsiedel: Wer ist denn deiner Mutter Mann gewesen? Simplicius: Niemand. Einsiedel: Bei wem hat denn dein Meuder des Nachts geschlafen? Simplicius: Bei meinem Knan 2 . Einsiedel: Wie hat dich denn dein Knan geheißen? Simplicius: Er hat mich auch Bub genennet. Einsiedel: Wie hieß aber dein Knan? Simplicius: Er heißt Knan. Einsiedel: Wie hat ihm aber dein Meuder gerufen? Simplicius: Knan, und auch Meister. Einsiedel: Hat sie ihn niemals anders genennet? Simplicius: Ja, sie hat. Einsiedel: Wie denn? Simplicius: Rülp, grober Bengel, volle Sau, und noch wohl anders, wenn sie haderte. Einsiedel: Du bist wohl ein unwissender Tropf, dass du weder deiner Eltern noch deinen eignen Namen nicht weißt! Simplicius: Eia, weißt dus doch auch nicht. Einsiedel: Kannst du auch beten? Simplicius: Nein, unser Ann und mein Meuder haben das Bett gemacht. Einsiedel: Ich frage nicht hiernach, sondern ob du das Vaterunser kannst? Simplicius: Ja ich. Einsiedel: Nun so sprichs denn. Simplicius: Unser lieber Vater, der du bist Himmel, heiliget werde Nam, zu kommes d’ Reich, dein Will gescheh Himmel auf Erden, gib uns Schuld, als wir unsern Schuldigern geba, führ uns nicht in kein bös Versucha, sondern erlös uns von dem Reich, und die Kraft, und die Herrlichkeit, in Ewigkeit, Ama. Einsiedel: Bist du nie in die Kirchen gangen? Simplicius: Ja, ich kann wacker steigen, und hab einen ganzen Busen voll Kirschen gebrochen. […] Einsiedel: Ach dass Gott walte, weißt du nichts von unserm Herr Gott? Simplicius: Ja, er ist daheim an unserer Stubentür gestanden […], mein Meuder hat ihn von der 1 mundartlich für Mutter 2 mundartlicher (hessischer) Ausdruck für Vater 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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