Literaturräume, Schulbuch

2 „Ich weiß nicht, was ich bin.“ Angelus Silesius: „Der cherubinische Wandersmann“ (1675) Mystik und Lebensregeln Angelus Silesius (eigentlich Johannes Scheffler) ist Doktor der Philosophie und Me­ dizin, Hofarzt und Arzt in Armenspitälern. Er wechselt vom Protestantismus zum Katholizismus wegen der „freventlichen Verwerffung“ der Mystik durch das Luther­ tum. Mit Kreuz und Dornenkrone nimmt er ekstatisch an Prozessionen teil und setzt sich seit seiner Konversion heftig für die Gegenreformation ein. In scharfen Polemiken fordert er die katholischen Fürsten auf, die Andersgläubigen – auch mit Gewalt – zum Konfessionswechsel zu zwingen. Sein Werk „Der cherubinische Wan­ dersmann“ ist das am wenigsten attackierende Werk des Autors. Es bringt in 1665 Epigrammen die mystischen Erfahrungen des Autors und Lebensanleitungen für die durch die Kriegsleiden geprägten Menschen. Angelus Silesius predigt den „we­ sentlichen“ Menschen, der unabhängig von Zufall, Reichtum, Ruhm, aber auch von Verzweiflung und Not ist. Literarisches Vorbild für Angelus Silesius ist der schle­ sische Mystiker Jacob Böhme (1575–1624). Böhme hatte den Anspruch gestellt, durch göttliche Gnade in mystischer Erfahrung den „Grund“ der Schöpfung ge­ schaut zu haben. Böhmes Schriften waren auf Betreiben der Lutherischen Kirche verboten worden, die persönliche mystische Erfahrungen, welche manchmal auch mit alchemistischen Elementen verbunden waren, als unerwünscht ansah. Lesen Sie die folgenden Epigramme: Ich weiß, dass ohne mich GOtt nicht in Nu 1 kann leben Werd ich zunicht, er muss auch selbst den Geist aufgeben. Ich weiß nicht, was ich bin. Ich bin nicht, was ich weiß: Ein Ding und nicht ein Ding: Ein Tüpfchen und ein Kreis. Nichts ist, das dich bewegt, du selber bist das Rad, Das aus sich selbsten läuft und keine Ruhe hat. Mensch geh nur in dich selbst, denn nach dem Stein der Weisen Darf man nicht allererst in fremde Lande reisen. Erkenne selber dich. Wer sich erkennen kann, Trifft inner sich oft mehr als einen Menschen an. Mensch werde wesentlich: denn wann die Welt vergeht, So fällt der Zufall weg, das Wesen, das besteht. Viel haben macht nicht reich. Der ist ein reicher Mann, Der alles, was er hat, ohn’ Leid verlieren kann. 73 Der leseraum 2 4 6 8 10 12 14 1 nicht in Nu: nicht einmal kurz Mystik INFO (aus lateinisch mysticus : geheimnis­ voll) ist religiöses Bemühen, das die Vereinigung mit der Gottheit schon im Leben zum Ziel hat. Dazu setzt die Mystik Ekstase, Meditation, Gebet, Askese, Fasten, aber auch Praktiken wie Selbstgeißelung ein. „HErr“, „JEsus“, „GOtt“ – die Groß- schreibung als Zeichen der Ehrfurcht INFO In althochdeutscher Zeit wurden Großbuch­ staben nur am Anfang von Texten, Absätzen oder Strophen verwendet. Im 13. Jahrhundert tauchen auch im Satzinneren Großbuchstaben auf, jedoch nur bei besonderen religiösen Wörtern – Gott, Jesus – oder hohen Ämtern und deren Trägern: Kaiser, König. Diese Tendenz, besonders wichtige Dinge und Personen mit Großbuchstaben zu markieren, dehnt sich im 16. und 17. Jahrhundert aus. Wollte man jemanden besonders würdigen, so schrieb man seinen Namen oder sein Personalpronomen mit großem Anfangsbuch­ staben. Der „Rest“ davon: die Schreibung des Anredepronomens „Sie“ und großgeschriebene Anredepronomen in Briefen. Für besonders Würdige wurden sogar zwei oder mehrere Buchstaben großgeschrieben, wie eben HErr für Christus. Ende des 17. Jahrhunderts kristallisierte sich ein geregelter Sprachge­ brauch heraus, der grammatische Tatsachen berücksichtigte: Eigennamen und Nomen, die damals den Namen „Hauptwörter“ erhalten, werden seither in der Regel großgeschrieben. AUFGABE > Welche Epigramme sehen Sie als „mystische“, mit dem Verstand nicht analysierbare Sprüche an, welche als eher praktische Lebensregeln? Nur zu Prüfzweck n – Eigentum des Verlags öbv

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