Literaturräume, Schulbuch
Ich habe einen namens Faustus gekannt. Als er zu Krakau studierte, hatte er die Magie erlernt, wie sie dort früher stark getrieben wurde, wo man öffentliche Vorlesungen über diese Kunst hielt. Später schweifte er an vielen Orten umher und sprach von geheimen Dingen. Da er zu Venedig Aufsehen erregen wollte, kündigte er an, er werde in den Himmel fliegen. Der Teufel hob ihn also in die Höhe, ließ ihn aber darauf zur Erde fallen, so dass er von diesem Falle fast den Geist aufgegeben hätte. Vor wenigen Jahren saß dieser Johannes Faustus an seinem letzten Tage sehr betrübt in einem Dorfe des Herzogtums Württemberg. Der Wirt fragt ihn, warum er so betrübt sei wider seine Sitte und Gewohnheit; denn er war sonst ein schänd- licher Schelm, der ein liederliches Leben führte, so dass er ein- und das anderemal fast wegen seiner Liebeshändel umgekommen wäre. Darauf erwiderte er dem Wirt in jenem Dorfe: „Erschrick diese Nacht nicht!“ In der Mitternacht ward das Haus erschüttert. Da Faustus am Morgen nicht aufgestanden und bereits der Mittag gekommen war, ging der Wirt in sein Zimmer und fand ihn neben dem Bette liegen mit umgedrehtem Gesichte, so hatte ihn der Teufel getötet. 63 Der Humanist Philipp Melanchthon (1497–1560), Theologe und Mitarbeiter Luthers: Fausts Eintritt in die Literatur 1556 In Erfurt erste Aufzeichnung von Geschichten, Anekdoten und Schwänken um seine Person. 1587 Die „Historia von D. Johann Fausten, dem weitbeschreyten Zauberer und Schwarzkünstler“ erscheint bei dem Verleger und Drucker Johann Spies in Frankfurt. Die Tendenz des Buches: Faust ist böse Faust wird als Verkörperung des Menschen gesehen, der naturwissenschaftlichem Denken vertraut, welches die biblischen Lehren bedroht, und als Gegenbild des demütigen lutherischen Menschen. Faust ist von der wahren Religion abgefallen, hat einen Teufelspakt geschlossen, mit dessen Hilfe zahlreiche betrügerische Taten vollführt – von vertauschten Köpfen bis zu Weinwundern, von Fressorgien bis zum Herbeizaubern von Schlössern –, man che davon im Vatikan und beim Sultan. Sechs Kapitel bereiten die Todesnacht vor. Am Ende beklagt und bereut Faust seinen Abfall von der Religion und den Pakt mit dem Teufel. In der Nacht wird Faust mit Getöse vom Teu fel geholt, am nächsten Tag findet man nur mehr verstreute Zähne, Augen, Gehirnteile: „ Also endet sich die ganze wahrhaftige Historia und Zauberei Doctor Fausti, daraus jeder Christ zu lernen, sonder- lich aber, die eines hoffärtigen, stolzen, fürwitzigen und trotzigen Sinnes und Kopfs sind, GOTT zu fürchten, Zauberei, Beschwörung und andere Teufelswerke zu fliehen […] und Gott alleine zu lieben […] und mit Christo endlich selig zu werden. Amen, Amen, das wünsche ich einem jeden […]. AMEN.“ 1592 Christopher Marlowe: The Tragicall History of D. Faustus (Drama) Die Tendenz des Dramas: Anteilnahme für Faust Das Schauspiel beginnt mit dem Eingangsmonolog des von Machstreben, aber vor allem von Wissensdurst und Verlangen nach Schönheit erfüllten überheblichen Faust und endet mit seinem Schlussmonolog voll Verzweif lung. An die Stelle der hämischen Freude über den Untergang des Teufelsbündlers treten in Marlowes sehr er folgreichem Drama erstmals Anteilnahme und Respekt für den außergewöhnlichen Menschen Faust. 1599 Bearbeitung des Volksbuches von 1587: Der Glaubwürdigkeit halber werden fiktive Daten eingebaut. Fausts Leben wird parallel zu dem Luthers vorgeführt, Faust aber in seinem Gelehrtenhochmut und Teufelspakt wieder als Gegentyp zum sündenbewussten, auf die Gnade Gottes vertrauenden religiösen Menschen gestaltet. 1608 Erste nachweisbare deutschsprachige Aufführung von Marlowes Stück durch eine Schauspielertruppe in Graz. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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