Literaturräume, Schulbuch
60 Renaissance, humanismus, reformation (1450–1600) Denn man mus nicht die buchstaben inn der lateinischen sprachen fragen, wie man sol Deutsch reden [...], sondern man mus die muter im hause, die kinder auf der gassen, den gemeinen man auff dem marckt drumb fragen und den selbigen auf das maul sehen wie sie reden und danach dolmetzschen. So verstehen sie es denn und mercken, das man Deutsch mit inen redt. […] Wenn Christus spricht: „Ex abundantia cordis os loquitur.“ Wenn ich den eseln soll folgen, sie werden mir die buchstaben fürlegen und so dolmetzschen: Aus dem überfluss des hertzen redet der mund. Sage mir, ist das deutsch geredt? Welcher deutscher verstehet solchs? Was ist überfluss des hertzen für ein ding? Das kann kein deutscher sagen, er wolt den sagen, es sey, das einer ein allzu groß hertz habe oder zuviel hertzes habe; wiewohl das auch noch nicht recht ist. Denn überfluss des herzen ist kein deutsch, so wenig als das deutsch ist: über- fluss des hauses, überfluss des kachelofen, überfluss der banck. Sondern so redet die mutter im haus und der gemeine man: Wes das hertz voll ist, des gehet der mund über. Das heist gut deutsch geredt. […] Luthers Deutsch und unser Deutsch Luther hat die deutsche Sprache um viele ausdrucksstarke Wendungen bereichert. Einige Beispiele: ein Dorn im Auge sein, himmelhoch jauchzend, Gewissensbisse, die Haare stehen zu Berge, mit Zittern und Zagen, herzzerreißend, durch die Finger schauen, ein Schandfleck, sein Herz ausschütten, aus seinem Herzen eine Mörder- grube machen, mit Feuereifer, ein Lückenbüßer, unrecht Gut gedeihet nicht, Muttersprache, Stein des Anstoßes, die Hände in Unschuld waschen, sein Licht unter den Scheffel stellen. Auch die „Volxbibel“ will dem „Volk aufs Maul schauen“ Die Diskussion ist heftig. Je nach Standpunkt wird sie als revolutionär oder gotteslästerlich bezeichnet. Es geht um die „Volxbibel“, welche die Evangelien in den Jugendslang überträgt. Josef und Maria schlafen im Stall, weil sie „keinen anständigen Pennplatz mehr gefunden haben“, besucht von Hirten, die „voll die Panik bekommen“ , leuch ten „wie 5000-Watt Halogenlampen“ und hören: „Heute Nacht ist der Mann geboren worden, der euch alle aus eu- rem Dreck holen wird.“ Das „Vater unser“ beginnt so: „Hey, unser Papa da oben.“ Das Jüngste Gericht wird so dar gestellt: „Der Mailwasher sortiert dir die guten Mails raus, der ganze Schrott kommt in den Mülleimer und wird gelöscht. So wird es auch am letzten Tag der Erde sein.“ Jeder ist eingeladen, seine Ideen einzubringen, so dass sich auch die Übertragung laufend ändert und dem aktuellen Sprachgebrauch anpasst. Proargumente für diese Art der Bibelübertragung liefert die Internetseite www.volxbibel.de ; die kritische Seite www.volxbibel. de.vu wurde inzwischen wieder eingestellt, da sich die Argumente „von der sachlichen auf die persönliche Ebene verlagert“ hätten. Ein österreichischer Vorgänger Allerdings ist die „Volxbibel“ nicht der erste Versuch, die Bibel in eine neue sprachliche Form zu bringen. Der Wiener Autor Wolfgang A. Teuschl hatte 1971 mit seiner Version der Evangelien, „Jesus und seine Hawara“, Skan dal erregt. Dort heißt es über die Geburt Jesu: „Und sie hod ian Buam (ian easchdn Gschroppm) auf d Wöd brocht. Und wäu olle Wiadsheisa bumfoe gwesn san und niagns a Kammal frei woa, hods eam in a boa Fezzaln eigwikkld und hod eam eineglegd in so an Schroong.“ Die Bibel in frauengerechter Sprache Ein weiteres Übersetzungsprojekt, das sich „Bibel in gerechter Sprache“ nennt, will „männlich-autoritäre“ und „frau- enfeindliche“ Interpretationen des Bibeltextes tilgen. Auch dieses Vorhaben nimmt Luther als „Zeugen“. Eine am Projekt beteiligte Wissenschafterin: „Schon Luther riet, bei Bibelübersetzungen den Leuten aufs Maul zu schauen. Heute redet niemand mehr im öffentlichen Leben, ohne auch Frauen anzusprechen. Von daher ist die ‚Bibel in ge- rechter Sprache‘ ein längst überfälliges Projekt.“ Wo bisher die Menschen als „Brüder“, angesprochen wurden, wird in der neuen Übersetzung „Geschwister“ oder „Brüder und Schwestern“ verwendet. Auch Gott wird nicht mehr als „männlich“ gesehen. Die vorgeschlagene Neuübersetzung zur Schöpfungsgeschichte: „Da schuf Gott die Menschen als göttliches Bild, als Bild Gottes wurden sie geschaffen, männlich und weiblich hat er, hat sie, hat Gott sie geschaffen. Und Gott sah alles, was sie gemacht hatte: Sieh hin, es ist sehr gut.“ Auch der Gottesname wird nicht mehr mit „Herr“ wiedergegeben, um den Anschein zu vermeiden, Gott sei ein Mann. Die neuen Übersetzungen lauten „der Name“, „die Lebendige“, „Du“, „die Ewige“, „Ich-bin-da“ . Der biblische heilige Geist erscheint als „die heilige Geistkraft“ . 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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