Literaturräume, Schulbuch
56 renaIssance, humanIsmus, reformatIon (1450–1600) 2 Die Narren halten den Narren einen Spiegel vor Sebastian Brant: „Das Narrenschiff“ (1494) Der Bucherfolg der Renaissance Brants „Narrenschiff“ ist der größte Bucherfolg bis zu Goethes fast 300 Jahre später erscheinendem Werk „Die Leiden des jungen Werthers“. Zeitgenossen vergleichen Brant mit den Dichtungsgrößen Homer, Dante und Petrarca. Über die Themen des Buches wird von den Kanzeln gepredigt. In der Vorrede zu diesem Bestseller formuliert der Autor das Anliegen des Werks: zu nutz vnd heylsamer ler / vermanung und ervolgung der wysheit / vernunft und guter sytten: Ouch zu verachtung und straff der narheyt / blintheit […] und dorheit […] der menschen. In 112 Kapiteln beschreibt Brant satirisch Narrentypen als Verkörperung so zialer und moralischer Untugenden. Für Leseunkundige ist jedem Kapitel ein Holzschnitt vorangestellt, der die jeweilige Narrheit illustriert. Der Optimismus, dass schlechtes Verhalten im Grunde nur Narretei sei, seine Gründe im Nichtwissen habe und durch Information und Beispiele Besserung er reicht werden könne, ist ein wichtiges Kennzeichen des Humanismus. Einsicht ist der erste Weg zur Besserung: „Denn wer sich für ein narren acht / der ist bald zu eim weisen gemacht.“ Lehrhafte Werke legen ihre Schwer punkte oft in die Anfangsund Schlusskapitel. Lesen Sie deshalb Auszüge aus dem letzten Kapitel, „Von schlech- ten Sitten bei Tische“. Sie sind in unsere Standardsprache übertragen. Bei Tisch begeht man Grobheit viel, / Die zähl man auch zum Narrenspiel, / Von der zuletzt ich sprechen will. […] Sie waschen ihre Hände nicht, Wenn man die Mahlzeit zugericht’t, Oder wenn sie sich zu Tische setzen, Sie andre in dem Platz verletzen, Die vor ihnen sollten sein gesessen; Vernunft und Hofzucht sie vergessen, Dass man muss rufen: „Heda, munter, Mein guter Freund, rück weiter runter! Lass den dort sitzen an deiner Statt!“ Ein andrer nicht gesprochen hat Den Segen über Brot und Wein, Eh er bei Tische Gast will sein; Ein andrer greift zuerst in die Schüssel Und stößt das Essen in den Rüssel Vor ehrbarn Leuten, Frauen, Herrn, Die er vernünftig sollte ehrn, Dass sie zum ersten griffen an Und er nicht wär zuvorderst dran. Der auch so eilig essen muss, Dass er so bläst in Brei und Mus, Strengt an die Backen ungeheuer, Als setzte er in Brand ’ne Scheuer 1 . Mancher beträuft Tischtuch und Kleid, Legt auf die Schüssel wieder breit, Was ihm ist ungeschickt entfallen, Unlust bringt es den Gästen allen. Andre hinwieder sind so faul, Wenn sie den Löffel führen zum Maul, Dann hängen sie den offnen Rüssel So über Platte, Mus und Schüssel, Dass, fällt ihnen etwas dann darnieder, Dasselbe kommt in die Schüssel wieder. Etliche sind so naseweise: Sie riechen vorher an der Speise Und machen sie den andern Leuten Zuwider, die sie sonst nicht scheuten. Etliche kauen etwas im Munde Und werfen das von sich zur Stunde Auf Tischtuch, Schüssel oder Erde, Dass manchem davon übel werde. […] Sebastian Brant 1 Scheune 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 AUFGABE > Gliedern Sie Brants Kritik nach folgenden Aspekten: nötige Respektierung von Rangunterschieden, Hygiene, Peinlichkeit und Ekel, Gier, religiöse Formen! Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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