Literaturräume, Schulbuch
Der Druck der schönen Wörter Zum allgemeinen Verhaltensdruck auf die Menschen im Dorf kommen der Druck der Armut, des Frauseins und vor allem eben der Sprache. Sie verharmlost, verschleiert und soll Unangenehmes erträglicher machen: 2 „Frau Kreil ist eine schöne Schwedin.“ Franzobel: „Ikea“ (2003) Vom Leben in Produktnamen Aufklärung über die Macht der Werbung und ihrer Sprache bringt der folgende Text von Franzobel. Er be schränkt sich darauf, anhand einer Marke satirisch das Eindringen der Warenwelt in Kopf und Psyche zu zeigen. 373 Der leseraum Keine Maschinen im Haus; alles wurde noch mit der Hand gemacht. Gegenstände aus einem vergangenen Jahrhundert, im allgemeinen Bewusstsein verklärt zu Erinnerungsstücken: nicht nur die Kaffeemühle, die ja ohnedies ein liebgewordenes Spielzeug war – auch die BEHÄBIGE Waschrumpel, der GEMÜTLICHE Feuerherd, die an allen Ecken geflickten LUS- TIGEN Kochtöpfe, der GEFÄHRLICHE Schür- haken, der KECKE Leiterwagen, die TATEN- DURSTIGE Unkrautsichel, die von den RAUBEI- NIGEN Scherenschleifern im Lauf der Jahre fast bis zur stumpfen Seite hin zerschliffenen BLITZBLAN- KEN Messer, der NECKISCHE Fingerhut, der TOLLPATSCHIGE Stopfpilz, das BULLIGE Bügeleisen, das für Abwechslung sorgte, indem es immer wieder zum Nachwärmen auf die Herdplatte gestellt wurde, und schließlich das GUTE STÜCK, die fuß- und handbetriebene „Singer“-Nähmaschine; – woran wieder nur die Aufzählung das heimelige ist. Aber eine andre Methode der Aufzählung wäre natürlich genauso idyllisch: die Rückenschmerzen; die an der Kochwäsche verbrühten, dann an der Wäscheleine rotgefrorenen Hände; – wie die gefrorene Wäsche beim Zusammenfalten krachte! –; ein Nasenbluten manchmal beim Aufrichten aus der gebückten Stellung; Frauen, so in Gedanken, alles nur ja schnell zu erledigen, dass sie mit dem gewissen Blutfleck hinten am Kleid selbstvergessen zum Einkaufen gingen; das ewige Gejammer über die kleinen Wehwehchen, geduldet, weil man schließlich nur eine Frau war; Frauen unter sich: kein „Wie geht’s?“, sondern „Geht’s schon besser?“ Das kennt man. Es beweist nichts; ist jeder Beweis- kraft entzogen durch das Vorteile-Nachteile-Denken, das böseste der Lebensprinzipien. „Alles hat nun einmal seine Vor- und Nachteile“, und schon wird das Unzumutbare zumutbar […]. Die Vorteile waren in der Regel nur mangelnde Nachteile: kein Lärm, keine Verantwortung, keine Arbeit für Fremde, kein tägliches Getrenntsein vom Haus und von den Kindern. Die tatsächlichen Nachteile wurden also durch die fehlenden aufgehoben. Alles daher nicht halb so schlimm; man wurde spielend damit fertig, im Schlaf. Nur war bei dem allem kein Ende abzusehen. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 2 4 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 6 8 10 Hej. Da ist ja Frau Kreil. Frau Kreil ist Schwedin, keine Schwedenbombe von Inzersdorfer, aber sie hat eine schöne neue Einrichtung von Ikea, dem Möbelhaus aus Schweden. Schweden liegt in Norwegen, nein, in Leningrad. In Schweden wohnen nur Blondinen und Tischler, und dann gibt es noch die Lachsfischer und Fleischbällchendreher fürs Ikea-Mittagsmenü. Doch das ist Frau Kreil egal, sie wohnt nicht in Schweden, sondern in ihrer Wohnlandschaft. Frau Kreil sitzt in ihrem Sofa AUFGABEN > Mit welchen sprachlichen „Tricks“ soll das Unangenehme der täglichen Arbeit verharmlost werden? > Ersetzen Sie die Wörter in Großbuchstaben durch Ihnen ehrlicher erscheinende; welchen Stellenwert bekommt der Arbeitsalltag dann? > Mit welchem Fachbegriff bezeichnet man sprachliche Verharmlosungen? > Zitieren Sie weitere Beispiele für sprachliche Verharmlosungen aus Alltagsleben und Politik! Nur zu Prüfzwecken – Eigentum d s Verlags öbv
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