Literaturräume, Schulbuch

369 die literaturübersicht Gesellschaft auf ihre Tochter weitergeben, ihre persönlichen und sozialen Niederlagen auf die Tochter projizieren und sie zum Hoffnungsobjekt für ihre enttäuschten Wünsche degradieren. „Das Kind musste ihr [der Mutter] heraushelfen aus dem Elend ihrer Ehe und ihres ganzen Lebens, das Kind […] würde ihr nicht nur die Liebe geben, nach der sie schon seit fünfundzwanzig Jahren hungerte […]. Durch dieses Kind würde sie es doch noch schaffen“ , heißt es in „Die Züchtigung“. Die Väter Wenn es um die Väter geht, so sind diese kaum mehr die Tyrannen, als die sie zum Beispiel in den Werken Franz Kafkas erscheinen. Viel eher sind die Väter real oder emotional aus den Familien verschwunden, die Töchter auf der Suche nach ihnen. Symptomatisch dafür ist Brigitte Schwaigers „Vaterbuch“ mit dem Titel „Lange Abwesen­ heit“ (1980). Die Beziehung zum Vater ist auch Thema geworden im Roman „Nackte Väter“ (1999) von Margit Schreiner (*1953). Schreiner verfolgt den Lebenslauf des toten Vaters von dessen Tod zurück. Zentrum der Darstellung ist seine Hilflosigkeit als Alzheimer-Patient, Symbol seine Nacktheit, die er nicht mehr wahrnimmt. Als einzige materielle Erinnerung bleibt der Ich-Erzählerin das Gebiss des Vaters. In „Heißt lieben“ (2003) hat Schreiner die Mutter-Tochter-Beziehung analysiert. Beziehungen und Hoffnungen Die Benachteiligung von Frauen in der Arbeits- und Männerwelt ist der Gegenstand von Elfriede Jelineks Roman „Die Liebhaberinnen“ (1975). Die Frau muss sich auf einen zweifachen Markt werfen, den Arbeitsmarkt und den Heiratsmarkt. Die Frau wird zur Ware, die sich bestmöglich verkaufen muss, denn „gebrauchte frauen werden selten, und wenn, dann nur vom erstverbraucher genommen“ . Die einzige Perspektive für die Frauen, aus der mo­ notonen, schlecht bezahlten Arbeit wegzukommen, ist die Ehebeziehung: „viele näherinnen scheiden aus durch heirat, kindesgeburt oder tod. brigitte hofft, dass sie einmal durch heirat und kindesgeburt ausscheiden wird. alles andere wäre ihr tod. auch wenn sie am leben bleibt.“ Aber meist ist auch die Ehe eine Enttäuschung: „oft heiraten diese frauen oder gehen sonst wie zugrunde“ , merkt Jelinek provozierend an. Während die „Liebhaberinnen“ in Jelineks Roman in die Ehe flüchten, flüchtet die weibliche Hauptfigur in Margit Schreiners Roman „Haus, Frauen, Sex.“ (2001) aus der Ehe. Sie lässt sich nach 20 Jahren scheiden, legt den von ihrem Mann verwendeten Namen Resi ab und nennt sich von nun ab selbstbewusst Marie-Thérèse. Erzählt wird in Schreiners Roman aus der Sicht des Mannes, der in einem wütenden tragikomischen Monolog die Scheidung kommentiert. Die Themen Frauenarbeit und Beziehungen bestimmen auch den Roman „Jessica, 30.“ von Marlene Streeruwitz (*1950). Es geht dabei um eine junge Akademikerin, die als „freie Mitarbeiterin“ bei einer Frauenzeitschrift werkt, auf die Heuchelei der Medien und Politik stößt und auszubrechen versucht (11) . Die Erzählerin aus dem Roman „Mutterseele“ von Gabriele Kögl (*1960) muss die Erfahrung machen, dass weder die Kinder immer so werden, wie man das als Mutter gerne möchte, noch der Ehemann sehr lange dem Bild ent­ spricht, das die Frau sich zunächst von ihm macht – oder machen möchte. Gegen Ende ihres Lebens schaut sie zurück und erzählt ihre bedrückende Familiengeschichte (12) . Frauen, deren Leben sich zwischen Kinderwagen, Fabriksarbeit und Einmachgläsern abspielt, sind die Heldinnen im 2009 erschienenen Erzählband „Schneckenkönig“ von Eugenie Kain (1960–2010). Was den Frauen noch ein bisschen selbstbestimmtes Leben und Freude macht, wie ihre zwischen Tiefgaragen und Stadtautobahn einge­ zwängten kleinen Obstgärten, wird verdrängt von der „Stadtentwicklung“ mit ihren Bräunungsstudios und Großraumbüros. Der Ausbruch aus diesem tristen Alltag gelingt kaum einer von ihnen. Und wenn, dann gehen solche Frauen gleich ganz weit weg, wie zum Beispiel in die Sahara, um dort die Lieder der Tuareg-Frauen zu sammeln, bevor auch deren Lebensraum für immer zerstört ist. Geld, Macht und Erfolg Scharfe Kritik üben zahlreiche Autorinnen an einer Gesellschaft, in der, wie sie es sehen, das Geld als neue Gott­ heit regiert und gerade die Frauen von Wirtschaft und Werbung ausgenützt werden. In den Texten von Kathrin Röggla (*1971), wie „Abrauschen“ und „wir schlafen nicht“ (2004), agieren keine Individuen mehr. Dort leben und kollabieren die „it-supporters“ , „start-up-bürschchen“ , „key-account-manager“, die „a-personen“ bis „c-men- schen“ der New-Economy zwischen „short-sleeping“ , „quick-eating“ , „business-class-gefliege“ . Die Menschen sind Nur zu Prüfzwecken – Eigentu des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=