Literaturräume, Schulbuch
364 DIe gegenWartslIteratur – mIt österreIchschWerpunkt Diskussion um Kunst und Literatur auch in Österreich Die Auseinandersetzungen um die Funktion der Dichtung und die Rede von deren möglichem „Tod“ finden auch ganz besonders in Österreich statt. Vor allem in der Grazer Litera turzeitschrift „manuskripte“, dem Sprachrohr der „Grazer Autorenversammlung“, werden die Fragen zu Form, Aufgabe und Wirkungschancen von Literatur diskutiert. Peter Hand ke (*1942), Alfred Kolleritsch (*1931) und Klaus Hoffer (*1942) betonen, dass gerade Kunst und Literatur, die sich nicht direkt für Zwecke einsetzen lasse und nicht unmittel bar politisch sei, am ehesten gesellschaftlich verändernd wirken könne. Sprachliche Experimente zum Beispiel sind ihrer Ansicht nach viel auffälliger und laden eher provokant zum Denken ein als realistische Literatur. Andere wie Michael Scharang (*1941) hingegen fordern, dass die Literatur die ge sellschaftlichen Verhältnisse wirklichkeitsnah darstellen müsse, damit sie für das Publikum kritisch erfahrbar werden. Doch nicht nur die „Grazer Gruppe“ leistet einen eminenten Beitrag für die moderne deutschsprachige Literatur. Eine Vielzahl österreichischer Autorinnen und Autoren prägt bis heute die deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Auch aus diesem Grund bietet Ihnen dieses Kapitel einen ausge prägten ÖsterreichSchwerpunkt. So geht es mit der Literatur weiter Die Fragen nach der Rolle der Dichtung bleiben nicht ohne Konsequenzen. Die Literatur verzichtet auf die Propagierung globaler und utopischer Gesellschaftsveränderung. Viele Autorinnen und Autoren konkretisieren die Forderungen nach Veränderung auf einzelne Bereiche, wie Erziehung, Arbeitswelt, die Situation der Frau in der Gesellschaft, ökologische Fragen oder Fragen der Manipulation durch die Sprache. Andere propagieren statt politisch aktiver Literatur eine neue Subjektivität, die sich auf die Darstellung des einzelnen Menschen konzen triert und Dichtung von gesellschaftlichem Engagement fernhalten will. Für die österreichische Literatur beson ders charakteristisch sind Autorinnen und Autoren, die sich mit den Widersprüchen und Schwächen ihres Landes befassen. DIe lIteraturübersIcht Eine Vielzahl von Themen und Stilen Der Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Sprache Sprache kann manipulieren Unsere Sprache hat viele Funktionen: Sie informiert, drückt Emotionen aus, stellt soziale Kontakte her – „Schönes Wetter heute!“ – unterstützt das Denken – „Jetzt kürze ich einmal den Bruch, dann …“. Aber sie kann auch ma nipulieren. „Die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache“ hatte der Philosoph Ludwig Witt genstein die Beeinflussung durch die Sprache genannt. Nicht immer liegt die manipulative Anwendung der Spra che so klar zutage wie bei den folgenden „Unwörtern“: „Rentnerschwemme“, „sozial verträgliches Frühableben“ – wie lange sollen die Kassen Medikamente für alte Leute bezahlen? –, „Wohlstandsmüll“ – nicht vermittelbare Arbeitslose – oder „Menschenmaterial“. Auch simple Leerformeln wie „Da kann man nichts machen“, Phrasen INFO „Wie die Grazer auszogen, die Literatur zu erobern“ – so lautet der Titel einer Untersuchung über die „Grazer Autorenversammlung“. Tatsächlich wurde das 1960 gegründete Grazer „Forum Stadtpark“, in dem bis heute Veranstaltungen zu Literatur, Theater, Architektur, bildender Kunst, Film und Musik stattfinden, für die 60erund 70erJahre ein Brennpunkt junger Autorinnen und Autoren. Sie formierten sich im Protest gegen die etablierte Literatur, die von konserva tiven Schriftstellern dominiert wurde. Diese waren teilweise bedacht, eine Literatur zu schaffen, die sich harmonisch in die Zeit des Wiederaufbaus eingliedern ließ. Die Grazer Gruppe hingegen wollte die Literatur als ästhetisches Experiment, bewusstseinsverän dernd und gesellschaftskritisch sehen. „Denken heißt verneinen können“ , so definierte Alfred Kolleritsch das literarische Programm. Der „Grazer Autorenversammlung“ gehörte ein großer Teil der literarischen Avantgarde Österreichs zumindest für gewisse Zeit an: außer Handke, Hoffer, Kolleritsch, Scharang zum Beispiel noch Wolfgang Bauer, Gunter Falk, Reinhard P. Gruber, Elfriede Jelinek. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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