Literaturräume, Schulbuch

Auf der Bahre, ich sag es euch zuvor, werdet ihr ihn immer finden auf dem Gesichte liegen, und ob ihr ihn fünfmal umdrehet, er wird doch wieder verkehrt liegen. Denn lange schon […] war meine Seel in Hochmut und Stolz zu dem Satan unterwegs gewesen und stund mein Datum 1 dahin, dass ich nach Ihm trachtete von Jugend auf, weil ihr ja wissen müsst, dass der Mensch zur Seligkeit oder zur Höllen geschaffen und vorbestimmt ist, und ich war zur Höllen geboren. […] [Der Teufel] hat mir auch Zeit verkauft, vierundzwanzig unabsehbare Jahr, und sich gegen mir versprochen und verlobt für diese Frist, auch mir Großes verheißen und viel Feuer unter dem Kessel, dass ich fähig sein sollte zum Werk […]. Da aber nun die Zeit ausgelaufen ist, die ich mir einst mit meiner Seele erkauft, hab ich euch vor meinem Ende zu mir berufen, günstig liebe Brüder und Schwestern, und euch mein geistlich Hinscheiden nicht wollen verbergen. Bitt euch hierauf, ihr wollet meiner im Guten gedenken, auch andere, die ich etwa zu laden vergessen, von meinet- wegen brüderlich grüßen und darneben mir nichts für übel halten. Dies alles gesagt und bekannt, will ich euch zum Abschied ein weniges aus dem Gefüge spielen, das ich dem lieblich Instrument des Satans abgehört […].“ Er stand auf, bleich wie der Tod. „Dieser Mann“, ließ sich da in der Stille die klar artikulierende, wenn auch asthmatische Stimme des Dr. Kranich vernehmen, „dieser Mann ist wahnsin- nig. Daran kann längst kein Zweifel bestehen, und es ist sehr zu bedauern, dass in unserem Kreise die irrenärztliche Wissenschaft nicht vertreten ist […].“ Damit ging auch er hinaus. Leverkühn […] hatte sich an das braune Tafelklavier gesetzt und glättete mit der Rechten die Blätter der Partitur. Wir sahen Tränen seine Wangen hinunterrinnen und auf die Tasten fallen, die er, nass wie sie waren, in stark dissonantem Akkorde anschlug. Dabei öffnete er den Mund, wie um zu singen, aber nur ein Klagelaut, der mir für immer im Ohre hängen geblieben ist, brach zwischen seinen Lippen hervor; er breitete, über das Instrument gebeugt, die Arme aus, als wollte er es damit umfangen, und fiel plötzlich, wie gestoßen, seitlich vom Sessel hinab zu Boden. 360 Leverkühn lebt noch zehn Jahre, hilflos wie ein Kind, betreut von seiner Mutter. Wie real Adrians Teufelsbündnis tatsächlich ist, lässt Mann offen. Es könnte sich genauso gut um die Fantasien Leverkühns handeln, der sich in seiner Studentenzeit bei einer Prostituierten angesteckt hat und nun seinen syphilitischen Zusammenbruch erleidet. Grenzüberschreitung und politischer Größenwahn Die große Bedeutung von Manns Faustgestaltung liegt in der Verbindung des individuellen Teufelspakts Lever­ kühns mit einem „politischen“ Teufelspakt. Für Mann ist Deutschland mit dem Hitler-Regime ebenfalls einen Teufelsbund eingegangen und hat mit dem Untergang bezahlt. Es ist kein Zufall, dass Mann den Zusammen­ bruch Leverkühns im Jahr 1930 mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus zusammenfallen lässt, der einige Jahre später den Zusammenbruch Deutschlands verursacht. Während er die Biografie Adrian Leverkühns verfasst, analysiert Serenus Zeitblom das, was in Deutschland geschieht. Ein Beispiel: 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 Wir sind verloren. Will sagen: der Krieg ist verloren, aber das bedeutet mehr als einen verlorenen Feldzug, es bedeutet tatsächlich, dass wir verloren sind, verloren unsere Sache und Seele, unser Glaube und unsere Geschichte. Es ist aus mit Deutschland, wird aus mit ihm sein, ein unnennbarer Zusammenbruch, ökonomisch, politisch, moralisch und geistig, kurz allumfassend, zeichnet sich ab, – ich will es nicht gewünscht haben, was droht, denn es ist die Verzweiflung, ist der Wahnsinn. Ich will es nicht gewünscht haben, weil viel zu tief mein Mitleid, mein jammervolles Erbarmen ist mit diesem unseligen Volk, und wenn ich an seine Erhebung und blinde Inbrunst, den Aufstand, den Aufbruch, Ausbruch und Umbruch, den vermeintlich reini- genden Neubeginn, die völkische Wiedergeburt von vor zehn Jahren denke – diesen scheinbar heiligen Taumel, in den sich freilich, zum warnenden Zeichen seiner Falschheit, viel wüste Rohheit, viel Schlagetot-Gemeinheit, viel schmutzige Lust am Schänden, Quälen, Erniedrigen mischte, und der, jedem Wissenden unverkennbar, den Krieg, diesen ganzen Krieg schon in sich trug –, so krampft sich mir das Herz zusammen vor der ungeheuren 1 Schicksal 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 Nur zu Prüfzwecken – Eig ntum des Verlags öbv

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