Literaturräume, Schulbuch
„Wisst es also“, sagte der am Tische, „ihr Guten und Frommen, die ihr mit euerer mäßigen Sünd in Gotes“ (wieder verbesserte er sich und sagte „Gottes“, kam aber dann auf die andre Form zurück) „die ihr in Gotes Gnade und Nachsicht ruhet, denn ich habe es so lange bei mir verdruckt, will’s euch aber nicht länger verhalten, dass ich allbereit seit meinem einundzwanzigsten Jahr mit dem Satan verheirat bin und habe mit Wissen der Fahr 1 , aus wohlbedachtem Mut, Stolz und Verwegenheit, weil ich in dieser Welt einen Ruhm erlangen wollen, eine Versprechung und Bündnis mit Ihm aufgerichtet, also dass alles, was ich während der Frist von vierundzwanzig Jahren vor mich gebracht, und was die Menschen mit Recht misstrauisch betrachtet, nur mit Seiner Hilf zustandkommen, und ist Teufelswerk, eingegossen vom Engel des Giftes. Denn ich dachte wohl: Wer da kegeln will, muss aufsetzen, und muss heute einer den Teufel zu Huld 2 nehmen, weil man zu großem Fürnehmen und Werk niemands sonsten kann brauchen und haben denn Ihn.“ […] „Merkt es nur“, nahm er seine Rede wieder auf, „sonders achtbare liebe Freunde, dass ihr’s mit einem Gottverlassenen und Verzweifelten zu tun habt, dessen Leichnam nicht an geweihten Ort gehört, zu frommen abgestorbenen Christen, sondern auf den Schindwasen zu den Kadavern verreckten Viehes. 359 Faust im 20. Jahrhundert: Faust und der Drang nach Selbstzerstörung Die bedeutendste Faustdichtung des 20. Jahrhunderts – Thomas Mann: „Doktor Faustus“ (1947) Das literarische Werk von Thomas Mann ist eines der umfangreichsten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es enthält Gesellschaftsund Entwicklungsromane wie „Buddenbrooks“ (1901), die Geschichte des Abstiegs einer Kaufmannsfamilie über vier Generationen. Mann bekam dafür 1927 den Nobelpreis. Novellen wie „Der Tod in Venedig“ (1913) beschreiben die Problematik des Künstlers, Kunst und Leben zu vereinbaren. „Der Zauberberg“ (1924) reflektiert anhand von Patienten einer Lungenheilanstalt die Bedingungen von Gesundheit und Krank heit im Leben des Einzelnen und der Gesellschaft. Das Schaffen Manns enthält einen Roman über Goethe – „Lotte in Weimar“ (1939) – und Schelmenromane wie „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ (1954). „Der Erwählte“ (1951) ist eine ironische Nacherzählung der mittelalterlichen Gregoriuslegende von Inzest, Buße und Gnade, eines Motivs, das schon Hartmann von Aue im „Gregorius“ um 1210 gestaltet hatte. Von Anfang an hatte Manns Werk große Resonanz. Manns bedeutendstes Werk der Nachkriegszeit und zugleich die bedeu tendste deutsche Faustinterpretation des 20. Jahrhunderts ist der Roman „Doktor Faustus. Das Leben des deut schen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde“ (1947). Der selbstzerstörerische Drang nach Grenzüberschreitung Im Mai 1943 beginnt der 60jährige Gymnasiallehrer Dr. Serenus Zeitblom, die Biografie seines seit drei Jahren toten Freundes Adrian Leverkühn zu verfassen. Adrian, geboren 1885 in einer einfachen Bauernfamilie, zeigt schon früh hohes musikalisches Talent, die Musikerlaufbahn ist vorgezeichnet. Doch seine Anschauung von Mu sik ist eine sehr individuelle. Selbst zu musizieren oder Musik zu hören ist ihm unwichtig. Weder Virtuose – für ihn „Instrumental-Gaukler“ – noch Dirigent – eine „stabführende Frack-Primadonna“ – möchte er trotz seiner Talente werden. Er begeistert sich für „Musik in reiner Abstraktheit“ . Ihn fesseln die mathematische Strenge der Musik und die Verbindung zur Zahlenmystik. Adrian verlegt sich aufs Komponieren. Doch die herkömmlichen kompositorischen Möglichkeiten empfindet er als Zwang. Er überschreitet sie, indem er – wie in der Realität der Komponist Arnold Schönberg – die Zwölftonmusik schafft. Aufsehen erregende Kompositionen folgen, wie die Symphonie „Wunder des Alls“ und das Oratorium „Apocalypsis cum figuris“. Unterbrochen wird das Schaffen immer wieder durch lange Anfälle von Migräne und das Scheitern menschlicher Beziehungen. Höhepunkt seines Schaffens ist im Jahr 1930 die Kantate „Dr. Fausti Weheklag“ . Sie soll Beethovens Neunte Sinfonie, für Adrian ein Höhepunkt der Musik, übertreffen. Zur Präsentation dieser Komposition lädt er seine Freunde zu sich, setzt sich an den Tisch und leitet den Abend mit einer Rede ein: faust als „gemeIngut Der menschheIt“ Das 5. faust-fenster: 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 1 Gefahr 2 zu Hilfe Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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