Literaturräume, Schulbuch

grenzenlos Mangelnder Respekt vor der Literatur? Literaturunterricht vor 200 Jahren Wären Sie vor 200 Jahren Schüler/Schülerin gewesen und hätten sich mit der Literatur beschäftigt, so hätte diese Beschäftigung wesentlich anders ausgesehen. Einen Text zu verändern, ihm einen anderen Schluss zu geben, aus einer anderen Perspektive zu erzählen, kurz, die kreative Beschäftigung, die Sie in diesem und vielen anderen Abschnitten leisten konnten/mussten, wäre undenkbar gewesen. Der große Respekt vor der Literatur, der Jahr­ tausende herrschte, hängt mit dem Begriff der Literatur zusammen. Das Wort Literatur ist abgeleitet vom lateinischen Wort „littera“, das Buchstabe bedeutet. Der Plural „litterae“ erhielt dabei die spezielle Bedeutung „Dokument“, „Schriftstück“, „Brief“. Bis etwa 1800 bezeichnete „Literatur“ das in Büchern aufgezeichnete Wissen. Auch heute ist diese Bedeutung noch lebendig. Wenn jemand sagt, die „Literatur“ zu den Olympischen Spielen sei unüberschaubar geworden, so ist damit nicht gemeint, dass es dazu viele Gedichte, Erzählungen, Dramen gibt, sondern dass viel Wissenschaftliches dazu verfasst worden ist. Und mit Wissenschaftlichem kreativspiele­ risch umzugehen, fiele auch heute noch kaum jemandem ein, mit Wissenschaftlichem muss man sich vor allem argumentativ und kognitiv auseinandersetzen. Texte zum Auswendiglernen Um die Dichtung von der wissenschaftlichen Literatur abzugrenzen, wurde sie häufig mit dem Begriff „schöne Literatur“ bezeichnet. Er wurde aus dem Französischen übernommen, und zwar aus der Wortkombination „belles lettres“, was ursprünglich „schöne Wissenschaften“ bedeutet. Als solche wurden die Geisteswissen­ schaften in Abgrenzung zu den Naturwissenschaften bezeichnet. Im 18. Jahrhundert wurde das französische Wort für die gesamte Buchproduktion „guten Geschmacks“ verwendet. Aus „belles lettres“ wurde im 19. Jahr­ hundert im Deutschen der Begriff „schöne Literatur“ gebildet, um damit Romane, Gedichte, Dramen unter einer gemeinsamen Bezeichnung zusammenzufassen. Allerdings wurde das Wort im Deutschen zunächst nicht selten abwertend gebraucht. Als „bedeutsamer“ als das Lesen von Romanen und Gedichten galt, vor allem für den Mann, die Beschäftigung mit technischer und wissenschaftlicher Lektüre statt mit „Schöngeistigem“. Diesen Be­ griff finden Sie auch heute noch, wenn Sie zum Beispiel die Hitlisten der verkauften Bücher lesen. Dort wird meist zwischen „Sachbuch“ und „Belletristik“ unterschieden. Dieser Begriff wurde im Buchhandel geprägt, und zwar als Kombination aus „belles lettres“. Er ist heute zur Bezeichnung für den internationalen Markt von Bü­ chern geworden, die ein breites Publikum mit der Absicht „niveauvoller“ Unterhaltung ansprechen. Aber auch diese „schöne Literatur“ wurde früher anders eingesetzt als heute. Ein Homer, Vergil, ein Schiller Gedicht, ein FaustMonolog durfte nicht zum „freien Gebrauch“ verwendet werden, sondern wurde meist als Demonstrationsobjekt für vorbildlichen Sprachgebrauch, rhetorische Mittel oder zum Gedächtnistraining (Aus­ wendiglernen) genutzt. Plädoyers für kreatives Lesen Die Romantiker sind die ersten, die Leser und Leserinnen auffordern, Texte zu verändern. So schreibt Novalis: „Nur dann zeige ich, dass ich einen Schriftsteller verstanden habe, wenn ich […] ihn, ohne seine Individualität zu schmälern, übersetzen und mannigfach verändern kann.“ Seither lassen sich von Goethe, der meint, „dass sich der wahre Leser produktiv verhalten muss“ , bis zu Brecht und Enzensberger viele Autoren/Autorinnen anführen, die es nicht nur „gestatten“, mit ihrer Literatur produktiv umzugehen, sondern klar dazu auffordern. Ihre Begrün­ dung: Wenn Leser/Leserinnen selbst einen Text umschreiben, so geht es nicht darum, das Original zu übertreffen, sondern im Vergleich mit dem selbst geschriebenen Text die inhaltlichen, sprachlichen und gesellschaftlichen Besonderheiten des Originals zu erkennen. Aber auch der eigene Text erhält einen Wert, indem er mit dem Original verglichen wird. Noch einen weiteren Zweck sehen die Autorinnen und Autoren im kreativen Lesen: eine Opposition zu dem oft auf schnelles Konsumieren bedachten Zeitgeist, der sich mit einem Text kaum mehr intensiv befasst. 357 grenzenlos Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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