Literaturräume, Schulbuch

356 DIe lIteratur zWIschen 1945 unD 1968 Walter Jens Bericht über Hattington Die Länge von Sätzen sagt nichts über die Qualität des Stils Allerdings sollten Sie jetzt nicht meinen, nur kurze Sätze seien ein Beweis für guten Stil. Was vorzuziehen ist, lässt sich nur im Einzelfall beurteilen und hängt ab von der Intention des Textes, von der Zeit, aus der er stammt, und auch von der Sicherheit, mit der ein Autor den Satzbau beherrscht. Blättern Sie zurück auf S. 140 und lesen Sie nochmals den Beginn von Kleists „Erdbeben in Chili“ mit seiner langen Satzperiode. Vergleichen Sie nun damit die vereinfachte Syntax nach Art einer Kurzgeschichte: Der Winter kam in diesem Jahr sehr früh. Schon Mitte November hatten wir 15 Grad Kälte, und in der ersten Dezemberwoche schneite es sechs Tage lang hintereinander; am fünften, einem Mittwoch, brach Hattington aus. Er hatte offenbar damit gerechnet, dass der Schnee seine Spuren verschluckte – und diese Rechnung ging auf. Die Hunde verloren die Witterung, und die Gendarmen kehrten noch im Laufe der Nacht nach Colville zurück. Am Morgen darauf wurde unser Polizeiposten verstärkt und Sergeant Smith bekam zwei neue Kollegen: Man vermutete nämlich, dass Hattington versuchen würde, auf dem schnellsten Weg zu uns nach Knox zu gelangen. Denn hier hatte man ihn, einen seit langem gesuchten Verbrecher, im Mai auf offener Straße verhaftet […]. Die Annahme lag also nahe, dass der Zuchthäusler, um Rache zu nehmen, zuerst nach Knox kommen werde. St. Jago ist die Hauptstadt von Chili. Chili ist ein Königreich. Im Jahr 1647 gab es dort eine große Erderschütterung. Viele tausend Menschen fanden dabei ihren Untergang. Jeronimo Rugera stand zu diesem Zeitpunkt an einem Pfeiler des Gefängnisses und wollte sich erhenken. Er war dort eingesperrt. Man beschuldigte ihn nämlich eines Verbrechens. 2 4 6 8 2 4 10 12 14 16 18 6 8 PROJEKT „Die klassische deutschsprachige Kurzgeschichte“ Als die „sensibelsten Seismographen der menschlichen Verhältnisse“ sah Wolfdietrich Schnurre, einer der ersten Kurzgeschichtenautoren, die Texte dieser Gattung. Er verglich die Kurzgeschichte mit einer „keuchend kurzen, misstrauisch kargen Mitteilungsform“ und nannte sie ein „Stück herausgerissenes Leben“ . • Stellen Sie eine der folgenden „klassischen“ Kurzgeschichten vor – erster Schritt Literaturrecherche (Wo finde ich den Text?) – zweiter Schritt Lektüre – eventuell dritter Schritt: Lesen Sie zur Analyseergänzung weiterführende Sekundärliteratur! Textvorschläge: Ilse Aichinger: „Spiegelgeschichte“ (1952); Heinrich Böll: „Wanderer, kommst du nach Spa …“ (1950); Wolfgang Borchert: „Das Brot“ (1946); Marie Luise Kaschnitz: „Das dicke Kind“ (1951); Elisabeth Langgässer: „Saisonbeginn“ (1947); Luise Rinser: „Die rote Katze“ (1956). Eine gute Auswahl bietet z. B. der Band „Erzählte Zeit. 50 deutsche Kurzgeschichten der Gegenwart“. AUFGABEN > Übertragen Sie den Anfang von Hemingways Text ins Deutsche, übernehmen Sie dabei möglichst Hemingways Stil der kurzen Hauptsätze und Hauptsatzreihen. > Blättern Sie zurück zum Text Wolfgang Borcherts (S. 332) und markieren Sie dort die Stellen, die Ihnen typisch für den Kurzgeschichtenstil erscheinen! AUFGABE > Führen Sie Gründe an, weshalb die Originalversion Kleists stilistisch besser ist als die Umformung! Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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