Literaturräume, Schulbuch

kehrt sich mit dem Rücken gegen das Publikum. Der Bürgermeister: Gehen Sie in die Gasse. Ill zögert. Der Polizist: Los, geh. Ill geht langsam in die Gasse der schweigenden Männer. […] Ill bleibt stehen, kehrt sich um, sieht, wie sich unbarmherzig die Gasse schließt, sinkt in die Knie. Die Gasse verwandelt sich in einen Menschenknäuel, lautlos, der sich ballt, der langsam niederkauert. Stille. Von links vorne kommen Journalisten. Es wird hell. Pressemann I: Was ist denn hier los? Der Menschenknäuel lockert sich auf. Die Männer sammeln sich im Hintergrund, schweigend. Zurück bleibt nur der Arzt, vor einem Leichnam kniend, über den ein kariertes Tischtuch gebreitet ist, wie es in Wirtschaften üblich ist. Der Arzt steht auf, nimmt das Stethoskop ab. Der Arzt: Herzschlag. Stille. Der Bürgermeister: Tod aus Freude. Pressemann I: Tod aus Freude. Pressemann II: Das Leben schreibt die schönsten Geschichten. […] . Von links kommt Claire Zachanassian, vom Butler gefolgt. Sie sieht den Leichnam, bleibt stehen, geht dann langsam nach der Mitte der Bühne, kehrt sich gegen das Publikum. Claire: Bringt ihn her. Roby und Toby kommen mit einer Bahre, legen Ill darauf und bringen ihn vor die Füße Claire Zachanassians. Claire unbeweglich: Deck ihn auf, Boby. Der Butler deckt das Gesicht Ills auf. Sie betrachtet es, regungslos, lange. Claire: Er ist wieder so wie er war, vor langer Zeit, der schwarze Panther. Deck ihn zu. Der Butler deckt das Gesicht wieder zu. Claire: Tragt ihn in den Sarg. Roby und Toby tragen den Leichnam nach links hinaus. Claire: Führ mich in mein Zimmer, Boby. Lass die Koffer packen. Wir fahren nach Capri. Der Butler reicht ihr den Arm, sie geht langsam nach links hinaus, bleibt stehen. Claire: Bürgermeister. Von hinten, aus den Reihen der schweigenden Männer, kommt langsam der Bürgermeister nach vorne. Claire: Der Check. Sie überreicht ihm ein Papier und geht mit dem Butler hinaus. 353 Der leseraum Dürrenmatts Drama schließt mit einem Freudenchor der nun wieder reich gewordenen Güllener. 13 „Caligula lässt drohend sein Fahrrad klingeln.“ Wolfgang Bauer: „Caligula“ (1964) Eigentlich unspielbar Bauers Mikrodramen überfordern jedes Theater. Manche wie „Lukrezia“ dau­ ern gerade 30 Sekunden: Lukrezia sitzt in einem Tollkirschengebüsch, hebt ein Einsiedeglas zum Mund und flüstert „Kompott“, dann fällt der Vorhang. In anderen Dramen muss es laut Bauers Bühnenanweisung Walfische regnen, Überschwemmungen geben, muss das Theater in Feuer aufgehen, der Inten­ dant mit dem Flugzeug davonfliegen, die Antarktis, ein Düsenjet und ein Sta­ dion mit 150.000 Zuschauern, alles in Originalgröße, auf der Bühne sein. Bau­ ers Anliegen ist es, Dichtung und Kunst als Gegenstück zu einer nur auf das Praktische und Funktionieren ausgerichteten Realität zu zeigen. Caligula 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 144 146 148 150 152 154 156 158 Wolfgang Bauer 1. Akt: Die Bühne ist ein Obstgarten. Und zwar sieht man ausschließlich Apfelbäume, die alle dieselbe (rote) Sorte tragen. Ein schöner Septembernachmittag. Ernte. Auf den Bäumen stehen Bäuerinnen. Holen die fertigen Früchte ein. Auf den Ästen wippend, summen sie ein fröhliches Arbeitslied, zwinkern sich aufmunternd durch das helle Blattwerk zu. Ihre punktierten Kopftüchlein sind vielleicht das Symbol für die Stimmung der Mädchen. Mitten in diesem Idyll aber wird in der Bühnentiefe, dort wo der Gartenzaun eine Grenze ist, eine Person auf einem Fahrrad sichtbar. 2 4 6 8 10 Nur zu Prüfzwecken – Eigentu des Verlags öbv

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