Literaturräume, Schulbuch

12 „Die Güllener: Menschen wie wir alle.“ Friedrich Dürrenmatt: „Der Besuch der alten Dame“ (1955) Eine alte Dame rächt sich In ihrer Jugend war Kläri Wäscher von Alfred Ill verführt und mit ihrem Kind im Stich gelassen worden. Darauf war sie – vom Dorf als Hure abge­ stempelt – ins Ausland gegangen und durch mehrere Ehen mit reichen Männern zu einem sagenhaften Vermögen gekommen. Als Claire Zacha­ nassian kehrt sie nach 45 Jahren in ihren heruntergekommenen Heimat­ ort Güllen zurück, wo kaum ein Zug mehr hält. Der Besuch der alten Dame wird zu einer Sensation, als sie dem Städtchen eine Milliarde unter der Bedingung anbietet, Ill aus Gründen der „Gerechtigkeit“ und der „to- talen Rache“ zu töten. Zunächst lehnt man das Angebot „im Namen der Menschlichkeit“ entrüstet ab, dann aber deutelt man in Güllen so lange an dem Begriff Moral herum, bis man im „Interesse Güllens“ von der Not­ wendigkeit und moralischen Richtigkeit des Mordes überzeugt ist. Al­ fred Ill wird ermordet, Claire reist nach Überreichung des Schecks wieder ab, Güllen ist reich. Lachen, auch wenn es im Hals stecken bleibt Der Autor nennt das Stück eine „tragische Komödie“. Das Lachen soll Distanz erzeugen, so dass das Publikum die dargestellte Wirklichkeit kritisch erfassen kann. Dürrenmatt über Claire und das Anliegen des Stücks im Nach­ wort zum „Besuch der alten Dame“: 351 Der leseraum Friedrich Dürrenmatt Claire ist die reichste Frau der Welt, durch ihr Vermögen in der Lage, wie eine Heldin der grie- chischen Tragödie zu handeln, absolut, grausam, wie Medea etwa. Sie kann es sich leisten. Die Dame hat Humor […], da sie Distanz zu den Menschen besitzt als zu einer käuflichen Ware […]. Die Güllener: Menschen wie wir alle. […] Szene 1 Ill: Klara. Claire Zachanassian: Alfred. Ill: Schön, dass du gekommen bist. Claire: Das habe ich mir immer vorgenommen. Mein Leben lang, seit ich Güllen verlassen habe. Ill unsicher : Das ist lieb von dir. Claire: Auch du hast an mich gedacht? Ill: Natürlich. Immer. Das weißt du doch, Klara. Claire: Es war wunderbar, all die Tage, da wir zusammen waren. Ill stolz : Eben. Zum Lehrer: Sehen Sie, Herr Lehrer, die habe ich im Sack. Wiederentdeckt INFO Parallel zur großen Beachtung, die Frisch und Dürren­ matt finden, entdeckt man in den 60erJahren mit Robert Walser (1878–1956) einen weiteren großen Schweizer Autor neu. Im Mittelpunkt seiner schon vor dem Ersten Weltkrieg erschienenen Romane „Geschwis­ ter Tanner“ (1907), „Der Gehülfe“ (1908) und „Jakob von Gunten“ (1909) stehen Helden, denen Besitz, Erfolg, Anerkennung unwichtig sind. Heiter und gelassen verweigern sie die Anpassung. 2 4 6 2 4 6 8 10 12 AUFGABEN > Fassen Sie in eigenen Worten Hannas Kritik und Fabers Einsicht zusammen! > Schreiben Sie in freier Form einen Text zumThema „Letztens, als ich mich schön getäuscht habe mit meinem Glauben, dass ich alles planmäßig im Griff hätte …“! AUFGABE > Lesen Sie zwei Szenen: die Szene, als Ill und Claire einander nach 45 Jahren wieder treffen, und die Szene, in der Ill ermordet wird. Welche Elemente erscheinen Ihnen komischgrotesk, welche tragisch? Nur zu Prüfzwecken – Eig ntum des Verlags öbv

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