Literaturräume, Schulbuch

350 DIe lIteratur zWIschen 1945 unD 1968 Wir leben in einem Zeitalter der Reproduktion. Das allermeiste in unserem persönlichen Weltbild haben wir nie mit eigenen Augen erfahren, genauer: wohl mit eigenen Augen, doch nicht an Ort und Stelle; wir sind Fernseher, Fernhörer, Fernwisser. Man braucht dieses Städtchen nie verlassen zu haben, um die Hitlerstimme noch heute im Ohr zu haben, um den Schah von Persien aus drei Meter Entfernung zu kennen und zu wissen, wie der Monsun über den Himalaja heult oder wie es tausend Meter unter dem Meeresspiegel aussieht. […] Und mit dem mensch- lichen Innenleben ist es genau so. […] Was für ein Zeitalter! Es heißt überhaupt nichts mehr, Schwert- fische gesehen zu haben, eine Mulattin geliebt zu haben, all dies kann auch in einer Kulturfilm-Mati- née geschehen sein. Niemand kann sich der Gesellschaft entziehen Als schließlich der Zahnarzt anhand des Gebisses Stillers Identität feststellt, resigniert dieser in seinem Kampf um die eigene Identität. Er zieht sich aufs Land zurück und produziert dort Kunstgewerbe. „Homo faber“ beginnt im Krankenhaus Walter Faber wartet auf seine Krebsoperation. Tagebuchartig, wie Stiller, reflektiert er sein Leben. Aber während Stiller vor der Berechenbarkeit des Lebens flieht, ist Faber von der Planbarkeit des Lebens überzeugt. Vor Zufall und Schicksal fühlt er sich sicher. Für ihn als Techniker ist die Welt weder geheimnisvoll noch unklar. Das gibt ihm Halt: Stimmungen, Gefühle, Schwärmerei, Naturschönheit sind für Faber nichts: „Ich bin Techniker und gewohnt, die Dinge zu sehen, wie sie sind. Und sehe den Mond über der Wüste […] – klarer als je, mag sein, aber eine erre- chenbare Masse, die um unseren Planeten kreist, eine Sache der Gravitation, interessant, aber wieso ein Erlebnis?“ Fabers Erschütterung Doch da lernt er, fünfzigjährig, Sabeth, eine junge Frau, kennen, mit der er auf einer Reise ein Liebesverhältnis beginnt. Es ist seine Tochter, von deren Existenz er nichts weiß, da er mit seiner ehemaligen Braut Hanna die Abtreibung des Kindes beschlossen hatte. Eine Stelle als Techniker in Bagdad schien ihm damals zu verlockend: „Ich lebe, wie jeder wirkliche Mann, in der Arbeit.“ Die Erzählungen der jungen Frau lassen Fabers Vaterschaft für ihn immer wahrscheinlicher werden und auch das „Hanna-Mädchen-Gesicht“ Sabeths ist ein Indiz. Faber jedoch manipuliert seine Berechnungen, ob Sabeth seine Tochter sein könnte, bis er von der Unmöglichkeit überzeugt ist: „Ich rechnete im Stillen pausenlos, bis die Rechnung aufging, wie ich sie wollte: Sie konnte nur das Kind von Joa- chim sein! Wie ich’s rechnete, weiß ich nicht; ich legte mir die Daten zurecht, bis die Rechnung wirklich stimmte, die Rechnung als solche.“ Fortpflanzung und Kinder sind für Faber zu wenig berechenbar und angsterfüllt: „Überhaupt diese Fortpflanzerei, überall, es stinkt nach Fruchtbarkeit.“ Sabeth verunglückt auf der Reise mit Faber nach Griechenland tödlich. Sie stürzt, von einer Giftschlange gebissen, über eine Böschung. Hanna bestätigt Faber, dass Sabeth ihr gemeinsames Kind ist. Fabers neue Einsicht: Das Leben ist nicht berechenbar: 2 4 6 8 10 12 14 16 Diskussion mit Hanna! – über Technik (laut Hanna) als Kniff, die Welt so einzurichten, dass wir sie nicht erleben müssen. Manie des Technikers, die Schöp- fung nutzbar zu machen, weil er sie als Partner nicht aushält, nichts mit ihr anfangen kann; Technik als Kniff, die Welt als Widerstand aus der Welt zu schaffen, beispielsweise durch Tempo zu verdünnen, damit wir sie nicht erleben müssen. (Was Hanna damit meint, weiß ich nicht.) […] Mein Irrtum: dass wir Techniker versuchen, ohne den Tod zu leben. Wörtlich: […] Leben ist nicht Stoff, nicht mit Technik zu bewältigen. Mein Irrtum mit Sabeth: […] ich habe mich so verhalten, als gäbe es kein Alter, daher widernatürlich. Wir können nicht das Alter aufheben, indem wir weiter addieren, indem wir unsere eigenen Kinder heiraten. 2 4 6 8 10 12 14 16 AUFGABE > Tatsächlich scheint oft Wissen aus zweiter Hand über unser unmittelbar angeeignetes Wissen zu domi­ nieren. Machen Sie dazu beispielsweise folgende Probe: Was wissen Sie an Persönlichem über einen zurzeit berühmten Musik, Fernsehoder Sportstar, was wissen Sie im Vergleich dazu über die Menschen, denen Sie täglich begegnen? Nur zu Prüfzwecken – Eig ntum des V rlags öbv

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