Literaturräume, Schulbuch

Anpassung Gestern fing ich an sprechen zu lernen Heute lerne ich schweigen Morgen höre ich zu lernen auf 349 Der leseraum 11 „Wir leben aus zweiter Hand.“ Max Frisch: „Stiller“ (1954) und „Homo faber“ (1957) „Stiller“ beginnt im Gefängnis Er hasst Wiederholung und Routine. Er möchte sein Leben immer wieder neu gestalten. Deshalb flüchtet Stiller aus Ehe und Beruf in die USA, um sich dort eine neue Identität aufzubauen. Nicht mehr Stiller nennt er sich dort, sondern Jim Larkin White. Auch dort scheitert er. Ein Selbst­ mordversuch ist die Wende. Stiller/White beschließt in die Schweiz zu­ rückzukehren. Bei seiner Ankunft wird er als der verschollene Stiller er­ kannt und arretiert. Im Untersuchungsgefängnis schreibt er sein Tage­ buch. Der Beginn des Werks ist einer der berühmtesten Romananfänge des 20. Jahrhunderts. Erich Fried liest INFO Ständig wechselnde Gedichte in Textund Hörformat, von Erich Fried selbst vorgetragen, finden Sie unter http://www.erichfried.de/start.htm. Mehr als 500 FriedGedichte enthält http://www.erichfried.de/Gedichtindex.htm. Max Frisch Ich bin nicht Stiller! – Tag für Tag, seit meiner Einlieferung in dieses Gefängnis, das noch zu beschreiben sein wird, sage ich es, schwöre ich es und fordere Whisky, ansonst ich jede weitere Aussage verweigere. Denn ohne Whisky, ich hab’s ja erfahren, bin ich nicht ich selbst, sondern neige dazu, allen möglichen guten Einflüssen zu erliegen und eine Rolle zu spielen, die ihnen so passen möchte, aber nichts mit mir zu tun hat, und da es jetzt in meiner unsinnigen Lage (sie halten mich für einen verschollenen Bürger ihres Städtchens!) einzig und allein darum geht, mich nicht beschwatzen zu lassen und auf der Hut zu sein gegenüber allen ihren freundlichen Versuchen, mich in eine fremde Haut zu stecken, unbestechlich zu sein bis zur Grobheit, ich sage: da es jetzt einzig und allein darum geht, niemand anders zu sein als der Mensch, der ich in Wahrheit leider bin, so werde ich nicht aufhören, nach Whisky zu schreien, sooft sich jemand meiner Zelle nähert. Übrigens habe ich bereits vor Tagen melden lassen, es brauche nicht die allererste Marke zu sein, immerhin eine trinkbare, ansonst ich eben nüchtern bleibe, und dann können sie mich verhören, wie sie wollen, es wird nichts dabei herauskommen, zumindest nichts Wahres. Vergeb- lich! Heute bringen sie mir dieses Heft voll leerer Blätter: Ich soll mein Leben niederschreiben! wohl um zu beweisen, dass ich eines habe, ein anderes als das Leben ihres verschollenen Herrn Stiller. Keine Chance, aber dafür Einsicht in die Chancenlosigkeit Bald muss Stiller die Erfahrung machen, dass sein Wunsch nach persönlicher Identität unmöglich ist. Freunde, Bekannte, Ämter, Wissenschaft, die gesamte Gesellschaft haben über den Einzelnen mehr Macht als er selbst und drängen ihn in Rollen. Die moderne Gesellschaft erlaubt dem Menschen nicht mehr, ein persönliches Leben zu führen. Er bemerkt, dass Wissen, Erfahrung, Information nur scheinbar von uns selbst stammen. In Wirklichkeit lebt der Mensch aus zweiter Hand. Nicht zuletzt die Medien nehmen einem das individuelle Leben weg und ab. 2 4 6 8 10 12 14 2 4 16 18 20 22 24 26 28 AUFGABEN > Was kann das lyrische Ich dazu bewogen haben, sich anzupassen? > Schreiben Sie ein „Gegengedicht“ mit dem Titel „Widerspruch“: Gestern … Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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