Literaturräume, Schulbuch
vorerst andere Eroberungen anstrebten. […] Da sich sogleich drei der viereckigen Uniformen für die Witwe Greff erwärmten, kam etwas Bewegung in die starre Gesellschaft. Die Greffsche, die solch zügigen Andrang nach so langer Witwenschaft und vorherge- hender Fastenzeit kaum erwartet hatte, schrie anfangs noch vor Überraschung, fand sich dann aber schnell in jene, ihr fast in Vergessenheit geratene Lage. […] Fast wurde es friedlich und familiär in unserem Keller. Die Greffsche lag immer stiller werdend unter drei Kerlen abwechselnd, und als einer von denen genug hatte, wurde Oskar von meinem recht begabten Trommler an einen schwitzenden, in den Augen leicht geschlitzten, nehmen wir an, Kalmü- cken abgegeben. Während er mich links schon hielt, knöpfte er sich rechts die Hose zu und nahm keinen Anstoß daran, dass sein Vorgänger, mein Trommler, das Gegenteil tat. […] Oskar jedoch, der sich nicht so schnell umstellen konnte, verlegte sich, Ersatz für seine Ameisen suchend, auf das Beobachten mehre- rer platter, graubräunlicher Tiere, die sich auf dem Kragenrand meines Kalmücken ergingen. Gerne hätte ich solch eine Laus gefangen und untersucht […]. Weil ich aber mit einer einzigen Hand den Läusen schlecht beikommen konnte, trachtete ich, das Parteiabzeichen loszuwerden. Und um meine Handlungsweise zu erklären, sagt Oskar: Da der Kalmücke schon mehrere Orden an der Brust hatte, hielt ich jenen mich stechenden und am Läusefan- gen hindernden Bonbon dem seitwärts von mir stehenden Matzerath mit immer noch geschlossener Hand hin. Man kann jetzt sagen, das hätte ich nicht tun sollen. Man kann aber auch sagen: Matzerath hätte nicht zuzugreifen brauchen. Er griff zu. Ich war den Bonbon los. Matzerath erschrak nach und nach, als er das Zeichen seiner Partei zwischen den Fingern spürte. Mit nunmehr freien Händen wollte ich nicht Zeuge sein, was Matzerath mit dem Bonbon tat. Zu zerstreut, um den Läusen nachgehen zu können, wollte Oskar sich abermals auf die Ameisen konzentrieren, bekam aber doch eine rasche Handbewegung Matzeraths mit, sagt jetzt, da ihm nicht einfällt, was er damals dachte: Es wäre vernünftiger gewesen, das bunte runde Ding ruhig in der geschlossenen Hand zu halten. Er aber wollte es loswerden und fand trotz seiner oft erprobten Phantasie als Koch und Dekorateur des Kolonialwa- renladenschaufensters kein anderes Versteck als seine Mundhöhle. Wie wichtig solch eine kurze Handbe- wegung sein kann! Von der Hand in den Mund, das reichte aus, die beiden Iwans, die links und rechts friedlich neben Maria gesessen hatten, zu erschre- cken und von dem Luftschutzbett aufzujagen. Mit Maschinenpistolen standen sie vor Matzeraths Bauch, und jedermann konnte sehen, dass Matze- rath versuchte, etwas zu verschlucken. Hätte er doch zuvor wenigstens mit drei Fingern die Nadel des Parteiabzeichens geschlossen. Nun würgte er an dem sperrigen Bonbon, lief rot an, bekam dicke Augen, hustete, weinte, lachte und konnte bei all den gleichzeitigen Gemütsbewegungen die Hände nicht mehr oben behalten. Das jedoch duldeten die Iwans nicht. Sie schrien und wollten wieder seine Handtel- ler sehen. Aber Matzerath hatte sich vollkommen auf seine Atmungsorgane eingestellt. Selbst husten konnte er nicht mehr richtig, geriet aber ins Tanzen und Armeschleudern […] und bewirkte, dass mein Kalmücke, der bisher ruhig und leichtgeschlitzt zugesehen hatte, mich behutsam absetzte, hinter sich langte, etwas in die Waagerechte brachte und aus der Hüfte heraus schoss, ein ganzes Magazin leer schoss, bevor Matzerath ersticken konnte. Was man nicht alles tut, wenn das Schicksal seinen Auftritt hat! Während mein mutmaßlicher Vater die Partei verschluckte und starb, zerdrückte ich, ohne es zu merken oder zu wollen, zwischen den Fingern eine Laus, die ich dem Kalmücken kurz zuvor abgefangen hatte. Matzerath hatte sich quer über die Ameisen- straße fallen lassen. […] Die Ameisen fanden eine veränderte Situation vor, scheuten aber den Umweg nicht, bauten ihre Heerstraße um den gekrümmten Matzerath herum; denn jener aus dem geplatzten Sack rieselnde Zucker hatte […] nichts von seiner Süße verloren. 341 Der leseraum 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 AUFGABEN > Wie würden Sie Oskars Kommentar bezeichnen: mitfühlend, gleichgültig, Partei ergreifend? > Welche Stellen von Oskars Kommentar sind bewusst naiv, welche ironischverletzend, welche bewusst gleichgültig gehalten? Welche Passagen sind offen zynisch? Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des V rlags öbv
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