Literaturräume, Schulbuch
340 die literatur zwischen 1945 und 1968 an einer Menge gefüllter und peinlich verschlossener Gläser versuchte. Der Erfolg war einzigartig und für alle Beteiligten, selbst für Mama, die ja mein Verhältnis zum Glas kannte, überwältigend, überraschend. Gleich mit dem ersten noch sparsam beschnittenen Ton schnitt ich die Vitrine, in der Hollatz all seine ekelhaften Merkwürdigkeiten verwahrte, der Länge und Breite nach auf, ließ sodann eine nahezu quadratische Scheibe aus der Ansichtsseite der Vitrine vornüber klappen und auf den Linoleumfußboden fallen, wo sie platt auf dem Boden, die quadratische Form bewahrend, tausend- mal zersprang, gab dann dem Schrei etwas mehr Profil und eine geradezu verschwenderische Dring- lichkeit, besuchte mit diesem so reich ausgerüsteten Ton ein Reagenzglas nach dem anderen. Die Gläser sprangen knallend. Der grünliche, teilweise eingedickte Alkohol spritzte, floss, seine präparierten, blassen, etwas vergrämt dreinschauen- den Einschlüsse mit sich führend über den roten Linoleumboden der Praxis und füllte mit, möchte sagen, greifbarem Geruch den Raum dergestalt, dass Mama übel wurde und Schwester Inge die Fenster zum Brunshöferweg hin öffnen musste. 10 12 14 16 18 20 Oskar ist wie die anderen, nur illusionsloser und ohne Selbsttäuschung Oskar selbst ist so wie alle, egoistisch, bösartig, lüstern. In ihm spiegelt sich die Gesellschaft. Er genießt seine Fä higkeit, mit seiner Stimme Glas zu zersingen, als lustvolle Zerstörung. Er stößt die vermutlich von ihm schwange re zweite Frau von Alfred Matzerath, seine Stiefmutter Maria, von der Leiter und sticht ihr eine Schere in den Bauch, um einen Abortus herbeizuführen. Er verschuldet den Tod von Jan Bronski, seinem wahrscheinlichen Vater, und von Roswitha Raguna, seiner Zwergenfreundin. Oskar hat den Vater auf dem Gewissen Oskar ist auch nicht unschuldig am Tod von Alfred Matzerath, seinem nominellen Vater. In deutlicher Parallele zum Roman „Simplizissimus“, in dem Grimmelshausen den Überfall einer Reitertruppe auf das Bauernhaus des Simplex erzählt, schildert Grass das Eindringen russischer Soldaten in die Danziger Wohnung, in der sich die Witwe Greff und Oskars Familie – Alfred, dessen zweite Frau Maria, Oskars Halbbruder Kurt, der gleichzeitig Oskars Sohn ist, – vor den herannahenden Sowjet-Truppen verstecken. Alfred Matzerath, einer der ersten NS- Parteigänger in Danzig, nimmt vorsichtshalber das NS-Parteiabzeichen, ironisch „Bonbon“ genannt, vom Rock aufschlag. 22 24 26 28 30 32 Fast zaghaft wie ein Kind, das nicht weiß, ob es weiterhin an den Weihnachtsmann glauben soll, stand Matzerath mitten im Keller, zog an seinen Hosenträgern, äußerte erstmals Zweifel am Endsieg und nahm sich auf Anraten der Witwe Greff das Parteiabzeichen vom Rockaufschlag, wusste aber nicht, wohin damit; denn der Keller hatte Betonfuß- boden, die Greffsche wollte ihm das Abzeichen nicht abnehmen, Maria meinte, er solle es in den Winter kartoffeln verbuddeln, aber die Kartoffeln waren dem Matzerath nicht sicher genug, und nach oben zu gehen wagte er nicht, denn die mussten bald kommen, wenn sie nicht schon da waren, unterwegs waren, kämpften ja schon bei Brenntau und Oliva, als er noch auf dem Dachboden gewesen war, und er bedauerte mehrmals, den Bonbon nicht oben im Luftschutzsand gelassen zu haben, denn wenn die ihn hier unten, mit dem Bonbon in der Hand fanden – da ließ er ihn fallen, auf den Beton, wollte drauftreten und den wilden Mann spielen, doch Kurtchen und ich, wir waren gleichzeitig drüber her, und ich hatte ihn zuerst, hielt ihn auch weiterhin, als das Kurtchen zuschlug, wie es immer zuschlug, wenn es etwas haben wollte. […] Als Maria uns mit Hilfe der Witwe Greff trennte, hielt ich den Bonbon siegreich in der linken Faust. Matzerath war froh, dass sein Orden weg war. Maria hatte mit dem heulenden Kurtchen zu tun. Mich stach die offene Nadel in den Handteller. Nach wie vor konnte ich dem Ding keinen Geschmack abgewinnen. Doch als ich dem Matzerath seinen Bonbon gerade hinten, am Rock, wieder ankleben wollte – was ging mich schließlich seine Partei an – da waren sie gleichzeitig über uns im Laden und, was die kreischenden Frauen anging, höchstwahrscheinlich auch in den Nachbarkellern. Als sie die Falltür hoben, stach mich die Nadel des Abzeichens immer noch. […] Ganz normale, leichtgemischte Russen, schätzte ich, da an die sechs Mann auf der Kellertreppe drängten und über Maschinenpistolen Augen machten. Bei all dem Geschrei wirkte beruhigend, dass sich die Ameisen durch den Auftritt der russischen Armee nicht beein- flussen ließen. Die hatten nur Kartoffeln und Zucker im Sinn, während jene mit den Maschinenpistolen 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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