Literaturräume, Schulbuch

Ein Nachkomme der barocken Schelme „Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt“ , mit diesen Worten beginnt der Roman. Froh, dass er in der Anstalt Asyl gefunden hat, schreibt Oskar Matzerath die Memoiren seines Lebens. Sein Gitterbett empfindet er als „das endlich erreichte Ziel“ . Sein einziger Wunsch wäre es, wenn er das Bettgitter, das ihn von den anderen trennt, noch erhöhen dürfte, „damit mir niemand mehr zu nahetritt“ . Gleich wie die Schelme in den Barock­ romanen, zum Beispiel in Grimmelshausens „Simplizissimus“, hat sich Oskar von der Welt distanziert. Außerhalb ihres Getriebes lebt er ein von „Gleichgewicht“, „Heiterkeit“, „Stille“ geprägtes Leben, während die andern „blind, […] nervös […] außerhalb meiner Heil- und Pflegeanstalt ein verworrenes Leben führen müssen“ . Alles beginnt unter den Röcken der Großmutter „Niemand sollte sein Leben beschreiben, der nicht die Geduld aufbringt, vor dem Datieren der eigenen Existenz we- nigstens zur Hälfte seiner Großeltern zu gedenken“ , meint Oskar. Deshalb gedenkt er zunächst der Großmutter. Und die, Anna Bronski, sitzt im Jahr 1899 am Rande eines Kartoffelackers. Unter ihren vier Röcken versteckt sich der Brandstifter Joseph Koljaiczek vor den Gendarmen, die ihn verfolgen. Anna Bronski seufzt, während die Poli­ zisten sie nach dem Gesuchten befragen. Sie seufzt „zwar nur ein bisschen, aber doch laut genug, dass die Unifor- mierten wissen wollten, was es zu seufzen gäbe“ . Sobald sie außer Sichtweite sind, lässt sie einen Priester holen, der sie und Joseph Koljaiczek noch am selben Abend traut. Neun Monate später wird die Tochter Agnes geboren. Agnes wächst heran. Da kommt Jan Bronski nach Danzig. Agnes, seine Cousine, verliebt sich in den verheirateten Verwandten. Doch im Sommer 1918, während sie im Lazarett arbeitet, lernt sie Alfred Matzerath kennen, der dort gepflegt wird. 1923 findet die Hochzeit von Alfred und Agnes statt. Aber die Ehe stellt für Agnes Matzerath keinen Grund dar, Jan Bronski nicht mehr zu lieben. Oskars Geburt 1924 bringt Agnes Oskar zur Welt: offizieller Vater Alfred – deshalb auch der Name Oskar Matzerath –, höchst­ wahrscheinlicher Vater Jan Bronski. Oskar rechnet sich zu den Säuglingen, „deren geistige Entwicklung schon bei der Geburt abgeschlossen ist“ , und blickt skeptisch in sein Leben. Sehr beeindruckt ihn bei seiner Geburt, wie ein Falter rettungslos zwischen zwei Glühbirnen hin und her fliegt und dabei eine „Trommelorgie“ veranstaltet. Oskar überkommt dabei der „Wunsch nach Rückkehr in meine embryonale Kopflage“ . Doch es ist zu spät: „Zudem hatte die Hebamme mich schon abgenabelt; es war nichts mehr zu machen.“ Nur ein Satz fällt ihm positiv auf: „Wenn der kleine Oskar drei Jahre alt ist, soll er eine Blechtrommel bekommen“ , sagt die Mutter bei der Geburt. Oskars Lebensentscheidung An seinem dritten Geburtstag trifft Oskar eine Entscheidung: Er will auf keinen Fall so werden wie die Erwachse­ nen. Das heißt, er möchte nicht mehr wachsen. Oskar klettert durch die offen stehende Falltür in den Keller hi­ nunter, legt seine neue Kindertrommel vorsichtig auf den Zementfußboden, steigt dann wieder nach oben, schätzt die Höhe ab und springt mit dem Kopf voran nach unten. Vier Wochen liegt Oskar im Krankenhaus. Oskar bleibt 1 Meter 23. Von nun an kann er leben, ohne durch gesellschaftliche Regeln begrenzt zu sein, und hat es nicht nötig, „von Jahr zu Jahr größere Schuhe und Hosen zu tragen, nur um beweisen zu können, dass etwas im Wachsen sei“ . Aus der Perspektive des Zwergs sieht er mehr als alle anderen, vor allem die schäbigen Seiten, die „Aura des Miefs“ , wie Hans Magnus Enzensberger in seiner Analyse der „Blechtrommel“ formuliert: National­ sozialismus, Krieg, Verdrängung der Vergangenheit. In einem ist Oskar den anderen überlegen: Wenn ihm die Gemeinheiten zu viel werden, beginnt er endlos zu trommeln und zu schreien, und zwar mit unglaublichen Re­ sultaten. Er kann mit seiner Stimme Glas zersingen. Die Wirkung zeigt sich erstmals in der Praxis des Hausarztes Dr. Hollatz, den Agnes Matzerath regelmäßig wegen ihres nicht mehr wachsenden Sohnes konsultiert. Typisch für den Stil der „Blechtrommel“ ist der häufige Wechsel der Erzählperspektive zwischen der 1. und der 3. Person, sogar innerhalb eines Satzes. Oskar erzählt: 339 der leseraum Als er mir nach Monaten anlässlich eines Mittwoch- besuches […] meine Trommel nehmen wollte, zerstörte ich ihm den größten Teil seiner Schlangen- und Krötensammlung, auch alles was er an Embryo- nen verschiedenster Herkunft zusammengetragen hatte. Von gefüllten, aber nicht abgedeckten Biergläsern abgesehen und Mamas Parfumflakon ausgenommen, war es das erste Mal, dass Oskar sich 2 4 6 8 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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