Literaturräume, Schulbuch
336 DIe lIteratur zWIschen 1945 unD 1968 Diskussionen um ein Gedicht: „Todesfuge“ Ein Andenken an die Opfer ist auch die 1948 entstandene „Todes fuge“ von Paul Celan, das vermutlich berühmteste Gedicht über die Vernichtungslager. Der Text führte zu einer heftigen Diskus sion, ob die Schönheit des Gedichts mit dem Grauen, das es aus drücken will, vereinbar sei. Es durfte zu Lebzeiten Celans auf seine Anordnung hin nicht mehr in Gedichtsammlungen abgedruckt werden. Der Grund: Celan sah die Verwendung des Gedichtes als Lektüre für Schulen, Universitäten und in Lyrikanthologien als eine Art von Konsum und Missbrauch. Celans weiteres Schreiben verweigerte sich immer mehr der Deutung. Seine „hermetischen“ Gedichte wie „Fadensonnen“ verzichten auf eine nachvollzieh bare Aussage über die Wirklichkeit. Das Gedicht selbst will durch eine neue Sprache eine autonome Wirklichkeit erschaffen, die frei von der erlebten Realität ist. Die „absoluten Metaphern“ und „Chiffren“ der hermetischen Gedichte sind im Gegensatz zu gewohnten Metaphern nicht mehr verstehbar. Sie nehmen keine Rücksicht auf Anschaulichkeit und können nur vom Autor aufge löst werden. Celan selbst definierte seine Gedichte als „ins Offene und Leere weisende Frage“ . „Ausdrucksnot“ einerseits – für die un sagbaren Gräuel Worte zu finden – und „Ausdruckszwang andererseits“ – das Furchtbare vor dem Vergessen zu bewahren – bedingen die komplizierte Struktur von Celans Gedichten. Nelly Sachs O der weinenden Kinder Nacht O der weinenden Kinder Nacht! Der zum Tode gezeichneten Kinder Nacht! Der Schlaf hat keinen Eingang mehr. Schreckliche Wärterinnen Sind an die Stelle der Mütter getreten, Haben den falschen Tod in ihre Handmuskeln gespannt, Säen ihn in die Wände und ins Gebälk. Überall brütet es in den Nestern des Grauens. Angst säugt die Kleinen statt der Muttermilch. Zog die Mutter noch gestern Wie ein weißer Mond den Schlaf heran, Kam die Puppe mit dem fortgeküssten Wangenrot In den einen Arm, Kam das ausgestopfte Tier, lebendig In der Liebe schon geworden, In den andern Arm, Weht nun der Wind des Sterbens, Bläst die Hemden über die Haare fort, Die niemand mehr kämmen wird. INFO Der erste Text der österreichischen Literatur, der von Konzentrationslagern spricht, ist die am 1. September 1945 in einer Wiener Zeitung veröffentlichte Skizze „Das vierte Tor“ von Ilse Aichinger (*1921). Jüdische Kinder spielen auf einem Friedhof, werden gefragt, wieso sie gerade da spielen: „Warum geht ihr nicht in den Stadtpark?“ – „In den Stadtpark dürfen wir nicht hinein, nicht einmal außen herum dürfen wir gehen!“ – „Und wenn ihr doch geht?“ – „Konzentrationslager“, sagt ein kleiner Knabe ernst und gelassen und wirft seinen Ball in den strahlenden Himmel. Aichinger und ihre Mutter hatten die Verfolgung durch die Nationalsozia listen von 1938–45 überlebt. Aichingers Großmutter und die jüngeren Geschwister der Mutter wurden 1942 deportiert und ermordet. In ihrem Roman „Die größere Hoffnung“ (1948) schildert Aichinger ihr Überleben. Paul Celan: Fadensonnen über der grauschwarzen Ödnis. Ein baum- hoher Gedanke greift sich den Lichtton: es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 2 4 6 AUFGABEN > Welche Gegensätze geben die beiden Strophen wieder? > Welche konkreten Gegenstände, welche konkreten Handlungen der Mütter, welche Metaphern stehen für die Kindheit vor der Verschleppung? > Welche Metaphern stehen für das Grauen der Lager? Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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