Literaturräume, Schulbuch

4 „Das Gedicht ohne Glauben, an niemanden gerichtet“ Gottfried Benn: „Bitte wo –“ (1947) Nicht der Inhalt zählt, nur die Form Die literarische Darstellung der Nachkriegsepoche interessiert Gottfried Benn nicht. In einer Zeit, in der sich die Wertvorstellungen mehrmals von Grund auf gewandelt haben, sieht er die Form des Kunstwerks als einzige Möglichkeit der Stabilität an. Der Dichter muss sein Gedicht „abdichten gegen Einbrüche, Störungsmöglichkeiten“ . Er schafft das „absolute Gedicht, das Gedicht ohne Glauben, ohne Hoffnung, das Gedicht, an niemanden gerichtet“ . Die Alltagssprache sieht Benn als oberflächlich an, sie ist „nur noch Material für Geschäftsbesprechungen und […] Sinnbild eines tragischen Verfalls“ . Auf den Inhalt der Gedichte kommt es nicht an, sondern auf ihre Form. Des­ halb sind Benns Gedichte aus dieser Epoche meist nicht auf konkrete Inhalte überprüf- oder analysierbar. Als Gegengewicht zur „Trümmerliteratur“ wurde der Gedichtband „Statische Gedichte“ ein großer Erfolg. 335 der leseraum Bitte wo – Wenn du noch Sehnsucht hättest (bitte wann, bitte wo), dich noch mit Küssen kettest (amour – bel oiseau 1 ), wenn du noch flügelrauschend über den Anden schwebst dich in zwei Meere tauschend ahnungslos, wen du lebst, wenn noch die Qualen sprechen, Tränen durch bel oiseau dich stürzen und zerbrechen bitte wann – bitte wo? – Besonders deutlich wird der Verzicht Benns auf einen konkreten Inhalt im Vergleich zu seinem großen lyrischen Gegenspieler Bert Brecht. Als Beispiel finden Sie eines der berühmtesten Gedicht Brechts, „Der Rauch“ (1953). Der Rauch Das kleine Haus unter Bäumen am See. Vom Dach steigt Rauch. Fehlte er Wie trostlos dann wären Haus, Bäume und See. 5 „In den Wohnungen des Todes“ Nelly Sachs: „O der weinenden Kinder Nacht“ (1946) Paul Celan: „Todesfuge“ (1945) und „Fadensonnen“ (1968) Keine Sprache für die Mörder Auf Intervention der schwedischen Literaturnobelpreisträgerin Selma Lagerlöf („Nils Holgersson“) kann Nelly Sachs, später selbst Nobelpreisträgerin, kurz vor der drohenden Verschleppung nach Schweden fliehen. Ihre Gedichtbände „In den Wohnungen des Todes“, aus dem das zitierte Gedicht stammt, „Sternverdunkelung“ oder „Und niemand weiß weiter“ sind eine einzige Klage über die am jüdischen Volk begangenen Gräuel. Doch diese Gedichte haben keine Sprache für die Mörder, sie drohen ihnen weder noch verzeihen sie. Die Täter kommen gar nicht vor. Die Gedichte gelten ausschließlich den Opfern, nur sie haben das Recht, in der Sprache eines Gedichts zu erscheinen. 1 bel oiseau: schöner Vogel 2 4 6 8 10 12 2 4 Nur zu Prüfzweck n – Eigentum des V rlags öbv

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