Literaturräume, Schulbuch
332 DIe lIteratur zWIschen 1945 unD 1968 lerische“ Rechtschreibung und eine eigene Zeichensetzung verwendet, befassen sich skeptisch mit der DDR Vergangenheit und mit der politischen Wirklichkeit des vereinten Deutschland nach dem Ende der DDR 1990. Zu den Autoren, die der DDR kritisch gegenüberstanden, nach der „Wende“ 1990 jedoch bedauern, dass das Land keinen eigenständigen dritten Weg zwischen den politischen Blöcken gehen konnte, gehören Volker Braun mit dem Roman „Unvollendete Geschichte“ (1989) und dem Gedichtband „Tumulus“ (1990), Thomas Brussig mit „Helden wie wir“ (1995) und Wolfgang Hilbig mit „Das Provisorium“ (2000). Die jüngste radikale Abrech nung mit der DDR bildet der Roman „Der Turm“ (2008) von Uwe Tellkamp. Der leseraum 1 „Jetzt isst er die Kirschen auf, die für mich sind.“ Wolfgang Borchert: „Die Kirschen“ (1946/47) Der „reduzierte“ Autor Kaum ein Lesebuch, kaum eine Literaturgeschichte verzichtet auf eine aus führliche Präsentation von Wolfgang Borcherts Drama „Draußen vor der Tür“ und seiner Kriegs und Nachkriegserzählungen wie „Das Brot“ oder „Nachts schlafen die Ratten doch“. Doch die Favorisierung dieser Werke birgt die Ge fahr der Reduzierung des Autors auf eben diese paar Texte. Dass Borchert ein vielfältiger Erzähler ist, der seelische Katastrophen des Alltags fast wie beiläufig andeutet und ihnen trotzdem Eindringlichkeit gibt, geht dabei verloren. Bei spiele dafür sind die Erzählungen „Schischyphusch“, „Die traurigen Geranien“ oder die hier vorgestellte Kurzgeschichte „Die Kirschen“: Wolfgang Borchert Nebenan klirrte ein Glas. Jetzt isst er die Kirschen auf, die für mich sind, dachte er. Dabei habe ich das Fieber. Sie hat die Kirschen extra vors Fenster gestellt, damit sie ganz kalt sind. Jetzt hat er das Glas hingeschmissen. Und ich hab das Fieber. Der Kranke stand auf. Er schob sich die Wand entlang. Dann sah er durch die Tür, dass sein Vater auf der Erde saß. Er hatte die ganze Hand voll Kirschsaft. Alles voll Kirschen, dachte der Kranke, alles voll Kirschen. Dabei sollte ich sie essen. Ich hab doch das Fieber. Er hat die ganze Hand voll Kirsch- saft. Die waren sicher schön kalt. Sie hat sie doch extra vors Fenster gestellt für das Fieber. Und er isst mir die ganzen Kirschen auf. Jetzt sitzt er auf der Erde und hat die ganze Hand davon voll. Und ich hab das Fieber. Und er hat den kalten Kirschsaft auf der Hand. Den schönen kalten Kirschsaft. Er war bestimmt ganz kalt. Er stand doch extra vorm Fenster. Für das Fieber. Er hielt sich am Türdrücker. Als der quietschte, sah der Vater auf. Junge, du musst doch zu Bett. Mit dem Fieber, Junge. Du musst sofort zu Bett. Alles voll Kirschen, flüsterte der Kranke. Er sah auf die Hand. Alles voll Kirschen. Du musst sofort zu Bett, Junge. Der Vater versuchte aufzustehen und verzog das Gesicht. Es tropfte von seiner Hand. Alles Kirschen, flüsterte der Kranke. Alles meine Kirschen. Waren sie kalt? fragte er laut. Ja? Sie waren doch sicher schon kalt, wie? Sie hat sie doch extra vors Fenster gestellt, damit sie ganz kalt sind. Damit sie ganz kalt sind. Der Vater sah ihn hilflos von unten an. Er lächelte etwas. Ich komme nicht wieder hoch, lächelte er und verzog das Gesicht. Das ist doch zu dumm, ich komme buchstäblich nicht wieder hoch. Der Kranke hielt sich an der Tür. Die bewegte sich leise hin und her von seinem Schwanken. Waren sie schön kalt? flüsterte er, ja? Ich bin nämlich hingefallen, sagte der Vater. Aber es ist wohl nur der Schreck. Ich bin ganz lahm, lächelte er. Das kommt von dem Schreck. Es geht gleich wieder, dann bring ich dich zu Bett. Du musst ganz schnell zu Bett. Der Kranke sah auf die Hand. Ach, das ist nicht so schlimm. Das ist nur ein kleiner Schnitt. Das hört gleich auf. Das kommt von der Tasse, winkte der Vater ab. Er sah hoch und verzog das Gesicht. Hoffentlich schimpft sie nicht. Sie 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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