Literaturräume, Schulbuch
der grotesken modernen Welt hat auch ein besorgter Einzelner keine Chance, Unheil zu verhüten. Dies zeigt Dürrenmatts Drama „Die Physiker“. Der Physiker Möbius, der die „Weltformel“ entdeckt hat, mit der die Welt zerstört werden kann, flüchtet sich, obwohl er bei vollem Verstand ist, ins Irrenhaus. Nur so glaubt er seine Ent deckung vor dem Zugriff der Öffentlichkeit schützen zu können. Doch der Idealist Möbius rechnet nicht mit der primitiven Kriminalität der anderen. Seine Irrenärztin bringt die „Weltformel“ an sich. Die Zerstörung der Welt ist damit möglich. Das unter dem Eindruck der Entwicklung der Wasserstoffbombe geschriebene Stück warnt vor dem unkalkulierbaren Risiko der Wissenschaft, es endet pessimistisch: „Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden“ , stellt Möbius resignierend fest. Dokumentarisches Schreiben unter falscher Identität 1966 werden erstmals die „Industriereportagen“ von Günter Wallraff (*1942) publiziert. Der Autor schleuste sich, teils unter falschem Namen, in Betriebe ein und veröffentlichte die dort von ihm als unakzeptabel empfundenen sozialen Missstände. Höhepunkt seiner Kritik sind die dokumentarischen Berichte von der Arbeit bei der deut schen „Bild“Zeitung, ebenfalls unter fiktiver Identität. Sie erschienen 1977 unter dem Titel „Der Aufmacher“. Theaterprovokation aus Österreich: die grotesken Mikrodramen von Wolfgang Bauer Die Bekanntheit von Wolfgang Bauer (1941–2005) beruht heute in erster Linie auf Dramen wie „Party for six“, „Magic Afternoon“ und „Change“, welche Sinnverlust, Langeweile und Rollenzwänge vorführen. Bauers erster provokanter Bucherfolg waren aber die „Mikrodramen“. Auch für Bauer ist die Zerstörung von Pathos ein wich tiges Element des Theaters, wie das Drama „Caligula“ (13) zeigt. eXkurs Die Literatur der DDR Schreiben in der kommunistischen Diktatur In Verhältnissen, die sich von denen der Autorinnen/Autoren in Österreich, der Schweiz und der BRD grund legend unterschieden, lebten die Schriftsteller/Schriftstellerinnen der kommunistischen DDR. In der ersten Phase der DDR in den 50erund 60erJahren wurde die Literatur von der herrschenden Partei, der SED, verpflich tet, optimistisch den industriellen Fortschritt der „sozialistischen“ Gesellschaft zu beschreiben. Dieser „Sozialis tische Realismus“ wurde oft mit einem Szenario verbunden, in dem Saboteure den Erfolg des Sozialismus verhin dern wollen, von „positiven Helden“ entlarvt werden oder in den Westen fliehen. Bedeutenden Autoren/Auto rinnen wie Bertolt Brecht, der sich aufgrund seiner Berühmtheit auch Kritik leisten konnte, Anna Seghers, Heiner Müller, Irmtraud Morgner und Christa Wolf brachten dabei Werke unbestrittener Qualität hervor, indem sie sich vom vorgeschriebenen Programm nicht auf den Buchstaben genau vereinnahmen ließen. Allerdings mussten kritische Autoren wie der Romancier Uwe Johnson in den Westen flüchten. In den 70erJahren wurde der Litera tur etwas mehr Freiheit zugestanden. Erstmals gelangten auch die Probleme des Einzelnen in der sozialistischen Gesellschaft zur Sprache, wie in Christa Wolfs Roman „Der geteilte Himmel“. Emigration und Wende 1976 war diese relative Liberalisierung zu Ende. Mehr als 100 Autorinnen/Autoren wurden ausgewiesen oder emigrierten, wie der Liedermacher Wolf Biermann, die Lyrikerin Sarah Kirsch und der Lyriker Reiner Kunze und die Erzähler Günter Kunert und Jurek Becker. Manche Kritiker blieben zwar in der DDR, ihre Bücher durften aber nur im Westen publiziert werden, wie der über Missstände in der Arbeitswelt berichtende Roman „Flugasche“ von Monika Maron (1981). In der Mitte der 80erJahre bildete sich vor allem in Berlin eine Untergrundliteratur, die auf die traditionelle Methode der Veröffentlichung in Verlagen verzichtete. Man verbreitete die Werke in Lesungen und wollte mit einer bewusst irrationalen Schreibweise eine Literatur schaffen, welche die Stasi – der Staatssicherheitsdienst – nicht verstand. Ein wichtiger Vertreter dieser Literatur ist Reinhard Jirgl. Seine neuen Romane wie „Die atlantische Mauer“ (2000) und „Abtrünnig“ (2005), in denen der Autor teilweise eine „lautma 331 DIe lIteraturübersIcht | eXkurs Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=