Literaturräume, Schulbuch
330 die literatur zwischen 1945 und 1968 Große Romane ohne großes Publikum Autoren wie Böll, Grass, Lenz, Koeppen dominierten die Romanliteratur der 50er- und 60er-Jahre. Dabei blieb wenig Platz in der Öffentlichkeit für andere Romane, die den Krieg, die NS-Herrschaft und das Weiterleben des unmenschlichen Verhaltens, auf denen die NS-Herrschaft beruhte, auf ebenso qualitätsvolle, wenn auch zum Teil noch drastischere Weise schilderten. Dazu gehört der Roman „Wolfshaut“ des Österreichers Hans Lebert (1919–93) sowie „Vergeltung“ von Gert Ledig (1921–99) (9) . Diese Werke gelten heute noch im deutsch sprachigen Raum als eher wenig beachteter „Geheimtipp“. Die kritische Lyrik Auch die Lyrik wendet sich der Zeitkritik zu. Die Gedichte zielen auf Provokation, wollen Reaktionen, „Widerstän- de, Beschimpfungen, Gegenbeweise, mit einem Wort Folgen“ erzwingen. Gedichte wie „das ende der eulen“ und „middle class blues“ von Hans Magnus Enzensberger (*1929), „Freies Geleit“ von Ingeborg Bachmann (1926–73) und „Anpassung“ von Erich Fried (1921–88) (10) zeigen diese kritische Orientierung. Die Konkrete Poesie der Wiener Gruppe in den 50er- und 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts – Friedrich Achleitner (*1930), H. C. Artmann (1921–2000), Konrad Bayer (1932–64), Gerhard Rühm (*1930) – und die Gedichte von Autoren und Autorinnen, die der Gruppe nahestehen, wie Ernst Jandl (1925–2000), Friederike Mayröcker (*1924) und Andreas Okopenko (1930–2010), setzen sprachliche, visuelle und akustische Experimente ein und möchten damit genauso Kritik an der verbrauchten Sprache üben wie an der Reduzierung der Literatur auf Erbauung für „schöne“ Stunden. Oft in Gemeinschaftsarbeit („poetische gesellschaftsspiele“) setzte man sich mit dem Material „Sprache“ auseinander, in „literarischen cabarets“ wurden Texte, Chansons und Sketches präsentiert. Der skeptische Schweizer Max Frisch: die Menschen auf der Suche nach ihrer Identität Die Dramen- und Romanfiguren von Max Frisch (1911–91) suchen nach sich selbst. Besonders gilt das für die Romane „Stiller“ und „Homo faber“ (11) . In „Stiller“ versucht die Hauptperson Widerstand zu leisten gegen die Rolle, die ihm von der Gesellschaft aufgezwungen wird. Stiller träumt von einem spontanen Leben, vom Aus bruch aus Zwang und Eintönigkeit. „Homo faber“ bezeichnet man oft als „Komplementärroman“ zu „Stiller“. Die Hauptperson, der Techniker Walter Faber, träumt von einem geregelten Leben, in dem alles nach Plan verläuft und eine fixe Rolle ihm Identität gibt. Weder für Stiller noch für Faber erfüllt sich dieser Wunsch. Eine fixierte Rolle übernimmt auch die Hauptperson Andri in Frischs Dramenerfolg „Andorra“ (1961). Er wird allerdings von den Mitmenschen in diese Rolle gedrängt, in die des „Juden“ und Außenseiters. Wegen seiner durch diese Rol lenzuweisung verursachten Andersartigkeit wird er getötet. Wie dominierend die Bösartigkeit der Mitmenschen sein kann, hatte Frisch schon in „Biedermann und die Brandstifter“ (1958) gezeigt. Der naive Herr Biedermann, der sich nicht vorstellen kann, dass jemand anders denkt als er, trägt bereitwillig zu seinem eigenen Untergang bei. Der Untertitel des Dramas lautet „Ein Lehrstück ohne Lehre“. Er zeigt, wie skeptisch Frisch ist, was persön liche oder gesellschaftliche Veränderung durch Literatur anlangt. Der ironische Schweizer Friedrich Dürrenmatt: Die groteske Welt braucht groteske Literatur Dass Literatur die Welt nicht verbessern kann, ist auch die Ansicht von Friedrich Dürrenmatt (1921–90). Die Hoffnung, dass der „Mensch die Welt verändern könne und müsse, [ist] für den Einzelnen unrealisierbar“ . Die Poli tik ist für Dürrenmatt „unüberschaubar, anonym, bürokratisch geworden, und dies nicht etwa nur in Moskau oder Washington, sondern auch schon in Bern“ . Die Welt ist etwas „Ungeheures, […] das hingenommen werden muss“. Sie ist „gedankenlos, ein Irrenhaus, die Leute sind rücksichtslos […] sie hat ebenso zur Groteske geführt wie zur Atombombe“ . Ist die Welt grotesk, so müssen die Texte, die sie darstellen, auch grotesk sein. Nur mehr Komödien sind möglich, aber keine Tragödien, denn in der „Wurstelei unseres Jahrhunderts […] gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. Alle können nichts dafür […].“ Auch die Literatur kann in dieser allgemeinen Konfusion nichts mehr retten, sie kann vielleicht dann und wann warnen. Deshalb ist auch das Drama „Der Be- such der alten Dame“ (12) , in der die Bewohner des Städtchens Güllen ihren Mitbürger Ill in den Tod treiben, damit sie zu Wohlstand kommen, für Dürrenmatt eine „tragische Komödie“. Im Gegensatz zur antiken Tragödie kann niemand mehr ernstlich auf Veränderungen hoffen. Auch der Dichter selbst weiß keine Lösung. Er ist wie ein Lotse höchstens da, „um zu warnen. Die Schiffer sollen […] den Lotsen nicht missachten. Er kennt zwar die Kunst des Steuerns nicht und kann die Schifffahrt nicht finanzieren, aber er kennt die Untiefen und Strömungen.“ In Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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