Literaturräume, Schulbuch
wurde die Gruppe zunehmend wegen ihrer Beherr schung des Literaturmarktes und des autoritären Kri tiksystems attackiert. Den Schlusspunkt für die Gruppe setzte Peter Handke, der 1966 bei einer Ta gung die fehlende Weiterentwicklung der Literatur der Gruppe 47 kritisierte – siehe auch S. 391. Im Jahr darauf löste sich die Gruppe 47 auf. Darf man nach Katastrophen wie Auschwitz überhaupt noch Gedichte schreiben? Im Jahr 1951 schreibt der Philosoph Theodor W. Ador no einen Satz, der auch heute noch diskutiert wird: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barba- risch.“ Einerseits wollte Adorno sich damit gegen Ver suche wenden, mit Hilfe der Literatur in eine Welt der Idylle zu flüchten und die ungeheuren Vorgänge der jüngsten Geschichte zu ignorieren. Andererseits wollte er darauf aufmerksam machen, dass Dichtung das große Leiden des „unausdenklichen Schicksals“ der in den Vernichtungslagern Getöteten gar nicht adäquat wiedergeben könne. Noch ein drittes Anlie gen verbirgt sich in Adornos Satz. Auch Literatur, die sich engagiert und gegen Vernichtung und Mord an schreibt, ist problematisch, weil Literatur den Lesern/ Leserinnen Freude bereitet und angenehm zu lesen ist. Damit „allein schon widerfährt den Opfern Un- recht“ . Denn aus den Opfern „wird etwas bereitet, Kunstwerke, der Welt zum Fraß vorgeworfen, die sie umbrachte“ . Die Autorinnen und Autoren der Epoche waren provoziert und griffen den Satz an. Sie stellten ihrerseits die Frage, ob nach Auschwitz, der Atombombe und der potentiellen Vernichtung des Planeten nicht nur Lyrik, sondern die Kunst überhaupt noch möglich sei, da sie doch gegen die Barbarei nichts ausrichten konnte. Paul Celan (1920–70) oder Nelly Sachs (1891–1970) beharren in ihren Gedichten wie „Todesfuge“ oder „O der weinenden Kinder Nacht“ darauf, dass das Leiden bei aller Ge fahr, ästhetisch zu wirken und deshalb missbraucht zu werden, dargestellt werden muss (5) . Auf dokumenta rische Weise versucht Peter Weiss Verbrechen und Grauen von Auschwitz zu vergegenwärtigen. In seinem Dra ma „Die Ermittlung“ (1965), einem „Oratorium in elf Gesängen“, gibt Weiss kommentarlos die Vernehmung der Angeklagten und die Aussagen der Zeugen in den Frankfurter Auschwitzprozessen 1963–65 wieder. Am ein dringlichsten zur Sprache kommt das Grauen von Auschwitz nach dem Urteil vieler allerdings erst in einem Werk eines österreichischen Autors aus den 80erJahren, in „nachschrift“ von Heimrad Bäcker (1925–2003) (6) . Die Kritik an der Nachkriegszeit Ab den späten 50erJahren entzweiten sich Literatur und Politik immer mehr. Der Kalte Krieg, die weltweite, teils atomare Aufrüstung, die oft problemlose Integration von NSGrößen in hohe politische und wirtschaftliche Positionen der BRD, das einseitige Setzen auf materiellen Wohlstand, die schnelle Etikettierung von kritischen Intellektuellen und Autoren/Autorinnen als gefährliche „Kommunisten“ werden zumThema zahlreicher Romane wie „Tauben im Gras“ (1951) von Wolfgang Koeppen, „Mutmaßungen über Jakob“ (1959) von Uwe Johnson, „Die Blechtrommel“ (7) von Günter Grass (*1927), „Halbzeit“ (1960) von Martin Walser, „Das Brot der frühen Jahre“ (1955), „Billard um halb zehn“ (1959) und „Ansichten eines Clowns“ (8) von Heinrich Böll (1917–85) und „Deutschstunde“ (1968) von Siegfried Lenz. Eine eigene epische Schreibweise entwickelte Arno Schmidt (1914– 79). Er versuchte in Werken wie „Leviathan“ (1949) oder „Brand’s Haide“ (1951) in eigenständiger Orthographie und Interpunktion und neuen Wortschöpfungen Geschichte, menschliches Leben und Bewusstsein darzustellen. 329 DIe lIteraturübersIcht Eine neue Gattung: Das Hörspiel – Drama für die Ohren INFO In den 50erund 60erJahren etabliert sich das Radiohörspiel als neue Kunstgattung. Hörspiele zeigen folgende Charakteristika: – Der Raum wird mit Stimmen/Geräuschen dargestellt und wird von der Phantasie der Hörerinnen/Hörer realisiert. – Personen gewinnen über ihre Stimmen Anschaulich keit und bilden sich in der Phantasie des Publikums. – Geräusche, Klänge oder Kommentare müssen Handlungen, Konflikte und Geschehen erklären und auch die seelischen Vorgänge der Personen erkenn bar machen. – Die Sprache des Hörspiels ist knapp in der Formulie rung, einfach im Satzbau. Eine wichtige Funktion haben Stille und Pausen: Sie trennen die Personen und erhöhen die Spannung. – Hörspiele müssen sich auf 6 bis höchstens 8 Stimmen (= Personen) beschränken, sonst entsteht Verwirrung beim Publikum. Die Sendedauer liegt meist unter einer Stunde. Bedeutende Hörspiele: Ingeborg Bachmann: „Die Zikaden“ (1954), „Der gute Gott von Manhattan“ (1958); Günter Eich: „Träume“ (1951) und „Die Mädchen aus Viterbo“ (1953). Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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