Literaturräume, Schulbuch
328 die literatur zwischen 1945 und 1968 Trümmerliteratur Borcherts Drama „Draußen vor der Tür“ und viele seiner Kurzgeschichten berichten ebenso vom Leben in den Trümmern der Nachkriegszeit wie viele Texte von Wolfdietrich Schnurre. „Trümmerliteratur“ hat man auch des halb vielfach die Literatur unmittelbar nach dem Krieg genannt. Die Autoren nahmen diese Etikette als Ehren- titel. So schrieb Heinrich Böll (1917–85) im Jahr 1952 sein „Bekenntnis zur Trümmerliteratur“: Die ersten schriftstellerischen Versuche unserer Generation nach 1945 hat man als Trümmerliteratur bezeichnet, man hat sie damit abzutun versucht. Wir haben uns gegen diese Bezeichnung nicht gewehrt, weil sie zu Recht bestand: tatsächlich, die Menschen, von denen wir schrieben, lebten in Trümmern, sie kamen aus dem Kriege, Männer und Frauen in gleichem Maße verletzt, auch Kinder. Und […] wir als Schreibende fühlten uns ihnen so nahe, dass wir uns mit ihnen identifizierten. 2 4 6 8 10 Die beschränkte Anzahl von Themen Freilich ist dadurch auch die Anzahl der Themen der unmittelbaren Nachkriegsliteratur eher gering: der Kampf ums tägliche Überleben, das Dahinvegetieren als Kriegsgefangene, die Heimkehr in ein zerstörtes Land. Wolfgang Borchert gilt als Sprachrohr für diese Generation und diese Themen. Das Drama „Draußen vor der Tür“ und Kurzgeschichten wie „Nachts schlafen die Ratten doch“, „Das Brot“, „Die drei dunklen Könige“ oder „Die Küchenuhr“ sind Klassiker geworden. Sie verdecken aber, dass Borchert über diese Zeitthematik hinaus ein Meister der Kurzgeschichte ist. Deshalb wird Ihnen mit „Die Kirschen“ ein wenig bekannter Text Wolfgang Bor- cherts vorgestellt (1) . Für die Lyrik bilden Texte wie „Latrine“ von Günter Eich (1907–72) die klarsten Beispiele dieser neuen Literatur (2) . Die Thematisierung der Atombombenabwürfe im August 1945 über Japan geschieht in „Hiroshima“ von Marie Luise Kaschnitz (1901–74) (3) . Einer der bedeutendsten Lyriker weigert sich aller dings, Gedichte mit politischen Inhalten zu füllen: Gottfried Benn . Lyrik ist für ihn, wie das Gedicht „Bitte wo –“ zeigt, Kunst ohne Zweckgebundenheit (4) . Nach zwölf Jahren Diktatur wieder möglich: der Blick auf das Denken des Auslands Das NS-Regime hatte die Dichter und Dichterinnen Österreichs und Deutschlands weitgehend von der litera rischen Entwicklung im Ausland abgeschnitten. Umso stärker wurde nun diese Literatur beachtet. Vor allem amerikanische und französische Literatur beeinflussten die Dichtung. Aus den USA kam die neue Gattung der Short Story. Sie verzichtete auf psychologische Erklärungen und die Darstellung der Entwicklung von „Helden“. In ihrem Mittelpunkt stehen Durchschnittsmenschen mit ihren Alltagsproblemen, von denen in Momentauf nahmen berichtet wird. Von den Franzosen wirkten besonders die existenzialistischen Philosophen Jean Paul Sartre (1905–80) und Albert Camus (1913–60). Ihre Essays, Romane und Dramen verkündeten eine nach Krieg und Diktatur besonders offen aufgenommene Philosophie. Für den Existenzialismus kann der Mensch sich frei entscheiden. Er kann und muss wählen, wie er sein Leben gestaltet, und hat Verantwortung für sich und die an deren. Der Mensch ist, laut Sartre, nichts anderes als das, wozu er sich macht. In „Ist der Existenzialismus ein Humanismus“ (1964) schreibt Sartre: Der Mensch ist voll und ganz verantwortlich […] für das, was er ist. Und wenn wir sagen, dass der Mensch für sich selber verantwortlich ist, so wollen wir nicht sagen, dass der Mensch gerade eben nur für seine Individualität verantwortlich ist, sondern dass er verantwortlich ist für alle Menschen. 2 4 6 Das 1947 erschienene Werk Sartres „Was ist Literatur?“ beeinflusste die deutschen Autoren besonders stark. Lite ratur muss für Sartre mutig sein, revoltieren und über die Fragen ihrer Zeit schreiben. Ohne engagierte Literatur würde „die Gesellschaft in den Schlamm […] zurücksinken, das heißt in das gedächtnislose Leben der Hautflügler und Bauchfüßler“. Die dominante Gruppe 47 Fast zwanzig Jahre beeinflusste die vom Publizisten und Autor Hans Werner Richter gegründete „Gruppe 47“, ein lockerer Zusammenschluss von Autorinnen und Autoren, die deutsche Literatur. Man traf sich, um Texte der Gruppenmitglieder vorzulesen und über Texte eingeladener Nichtmitglieder zu diskutieren. In den 60er-Jahren Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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