Literaturräume, Schulbuch
Die Politisierung in den Sechziger Jahren In der jüngsten Geschichte hat das Jahr 1968 einen festen Platz. Mit diesem Datum wird der Höhepunkt einer vornehmlich von Studenten/Studentinnen, Intellektuellen und Autoren/Autorinnen getragenen Revolte gegen Staat und Gesellschaft bezeichnet. In diesen bis heute sehr unterschiedlich bewerteten, auch Gewalt nach sich ziehenden Aktionen spiegelt sich die Entwicklung der westdeutschen Gesellschaft der 50erund 60erJahre. Die Proteste hatten viele Begründungen. Man protestierte gegen die mangelnde Auseinandersetzung mit der Ver gangenheit und die einseitige Dominanz materiellwirtschaftlicher Entscheidungen auf Kosten ethischer und moralischer Kriterien. Man demonstrierte und empörte sich auch gegen die immer größere Steuerung des Einzelnen durch die Gesellschaft und den Verlust der Individualität, gegen militärische Aufrüstung und gegen die vomWesten im Namen der Freiheit geführten Kriege, wie in Korea und Vietnam. Kunst und Kultur warf man vor, eine Ware geworden zu sein, die auf den Markt geworfen und konsumiert wird, anstatt die Menschen zu autonomem Denken und Handeln zu führen. Die philosophische Basis für dieses kritische Denken bildete die so genannte „Kritische Theorie“ der „Frankfurter Schule“. Ihre Repräsentanten waren Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse – siehe auch S. 178. DIe lIteraturübersIcht Von Kahlschlag und Trümmerliteratur zur Kritik an der Wirtschaftswundergesellschaft Kahlschlag Nach dem Ende des Krieges und der Diktatur sahen die jungen Autorinnen und Autoren einen radikalen Neuan fang als einzige Möglichkeit. Einen „Kahlschlag“ wollten sie machen und das literarische und philosophische „Gestrüpp“ der Vergangenheit roden. Nicht nur inhaltlich, sondern auch in Sprache und Form sollte neu begon nen werden. „Die Kahlschläger fangen in Sprache, Substanz und Konzeption von vorn an, ganz von vorn.“ Nur der Wahrheit sehen sie sich verpflichtet, „auch um den Preis der Poesie“ . So schreibt der Dichter Wolfgang Weyrauch (1907–80), Herausgeber der ersten großen Sammlung deutscher Kurzgeschichten mit dem Titel „Tausend Gramm“ (1949). Die Dichter waren den großen, schönen und pathetischen Wörtern gegenüber skeptisch gewor den, zu sehr hatte der Nationalsozialismus mit ihnen Schindluder getrieben: „Die Schönheit ist ein gutes Ding. Aber Schönheit ohne Wahrheit ist böse. Wahrheit ohne Schönheit ist besser.“ Weyrauchs Dichterkollege Wolfdiet rich Schnurre (1920–89) formulierte folgenden Appell an die Autoren: 327 Das funDament | DIe lIteraturübersIcht Zerschlagt eure Lieder verbrennt eure Verse sagt nackt was ihr müsst. Sprachskepsis Wolfgang Borchert (1921–47) ist einer der eindringlichsten Verfechter dieser neuen Sprache, die auf Artistik und Schönheit verzichtet. In seinem programmatischen Text „Das ist unser Manifest“ schreibt er kurz vor seinem frühen, durch Krieg und Haft verursachten Tod: 2 4 Wir brauchen keine Dichter mit guter Grammatik. Zu guter Grammatik fehlt uns die Geduld. Wir brauchen die mit dem heißen heiser geschluchzten Gefühl. Die zu Baum Baum sagen und zu Weib Weib sagen und ja sagen und nein sagen: laut und deutlich und dreifach und ohne Konjunktiv. […] Nein, unser Wörterbuch, das ist nicht schön. Aber dick. Und es stinkt. Bitter wie Pulver. Sauer wie Steppensand. Scharf wie Scheiße. Und laut wie Gefechtslärm. 2 4 6 8 10 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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