Literaturräume, Schulbuch

326 die literatur zwischen 1945 und 1968 Verantwortung und Schuld Doch die Menschen mussten das Kriegsende auch als „Stunde der Wahrheit“ begreifen. Viele hatten sich der NS- Ideologie angeschlossen und waren somit für deren Gräuel mitverantwortlich. „Uns’re Hände sind befleckt“ , ge­ stand der Dichter Werner Bergengruen in einem Gedicht schon 1944 und fuhr fort: „Wir erbeben und erwarten, / stumm Geduckte, das Gericht.“ Max Frisch sah sich bei seiner Deutschlandreise hin- und hergerissen zwischen Verurteilung, Mitgefühl und der Aufforderung zur Erkenntnis des Getanen. Die Mehrzahl der Menschen betrieb laut Frisch gegenseitige Schuldzuweisung. Nur die wenigsten versuchten die Mitverantwortung an Krieg und Vernichtungslagern zu begreifen. Frisch sah einen Grund dafür im Elend des Landes: „Solange das Elend sie be- herrscht, wie sollen sie zur Erkenntnis jenes anderen Elendes kommen, das ihr Volk über die halbe Welt gebracht hat? Ohne diese Erkenntnis jedoch wird sich ihre Denkart nie verwandeln; sie werden nie ein Volk unter Völkern, was unsrer Meinung nach das eigentliche Ziel ist.“ Der deutsche Philosoph Karl Jaspers, der unter ständiger Lebensge­ fahr in Deutschland geblieben war, unterschied zwischen krimineller, politischer und moralischer Schuld. Krimi­ nelle und politische Schuld – umittelbare Beteiligung an Verbrechen oder an den NS-Organisationen – waren meist konkret feststellbar. Die moralische Verantwortung der Deutschen sah Jaspers differenziert: schuldig „ja – sofern wir geduldet haben, dass ein solches Regime bei uns entstand […]. Nein – sofern viele von uns in ihrem in- nersten Wesen Gegner all dieses Bösen waren […].“ Eine neue Bedrohung In seiner 1956 erschienenen Analyse der modernen Welt, die den Titel „Die Antiquiertheit des Menschen“ trägt, untersucht der österreichische Philosoph Günter Anders die neue Situation des Menschen nach dem Krieg. Mit der Möglichkeit des technisierten Massenmords in den Konzentrationslagern und der Herstellung von Atom- und Wasserstoffbomben ergibt sich eine bisher unbekannte Situation. Die „Apokalypse“ , wie Anders den Mas­ sentod in den Lagern und die Auswirkungen der Atombombe nennt, übersteigt alle Vorstellungen und mög­ lichen Gefühle: „Zehn Ermordete zu bereuen oder zu beweinen, sind wir unfähig. […] Vorstellen können wir [uns] die zehn Toten vielleicht. Zur Not. Aber töten – können wir Zehntausende. Ohne weiteres. Und die Leistungssteige- rung wäre und ist kein Problem. […] Vor unserem eigenen Sterben können wir Angst haben. Schon die Todesangst von zehn Menschen nachzufühlen, ist uns zuviel. Vor dem Gedanken der Apokalypse aber streikt die Seele.“ Anders warnt jedoch davor, diese Katastrophen gegeneinander auszuspielen. Sowohl die Vernichtung des europäischen Judentums im NS-Staat als auch der Einsatz der Atombomben in Hiroshima und Nagasaki haben zwar gemeinsame Wurzeln im ökonomischen und technischen Denken. Auschwitz aber ist für Anders das schlechthin „Monströse“ und „moralisch ungleich entsetzlichere Ereignis“ , denn es bedürfe einer größeren Gemütsverhärtung, ein Kind in die Gaskammer zu führen, als eine Bombe auf es zu werfen. In den Konzentrationslagern wurden die Menschen zum „Rohstoffdasein“ degradiert. Sie wurden missbraucht als „Material“ der Vernichtung, das „die un- gewöhnliche Eigenschaft besessen hat, sehen, hören und fühlen zu können“ . Das Schreckliche der Tragödie von Hiroshima und Nagasaki sieht Anders in dem Faktum, dass die Täter unsichtbar bleiben und mit der Atombombe Städte und Länder in Sekundenbruchteilen zerstört werden können. Der Kalte Krieg, Wirtschaftswunder und Verdrängung Im Oktober 1949 erklärt sich die von den Sowjets besetzte Zone Deutschlands zum selbstständigen „Ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden“, nachdem bereits imMai 1949 die BRD aus den drei westlichen Besatzungszonen gebildet worden ist. Der Westen nennt das Land „SBZ – Sowjetische Besatzungszone“. Sich selbst bezeichnet der neue Staat als „DDR – Deutsche Demokratische Republik“ – im Gegensatz zur BRD, der Bundesrepublik Deutschland. Während das westliche Deutschland politisch vom Westen eingebunden wird, ist die DDR in der West-Ost-Auseinandersetzung, dem Kalten Krieg, der bis 1989 dauern sollte, Bestandteil des kommunistischen Sytems. Der Westen Deutschlands und bald darauf auch Österreich werden ab den frühen 50er-Jahren geprägt von einer rapiden Phase des Wiederaufbaus und wirtschaftlichen Wachstums. Die Zufrie­ denheit über den ökonomischen Aufstieg nach Kriegs- und Nachkriegselend überlagert bei vielen Menschen die Beschäftigung mit der politischen Vergangenheit und erzeugt, wie Alexander Mitscherlich es nennt, die „Un­ fähigkeit zu trauern“ . „Vergangenheitsbewältigung“ blieb ein oft nur begonnenes Projekt. Die kommunistische DDR wiederum sah sich, aller Realität zum Trotz, als „fortschrittlicher“ Staat und als „Sieger der Geschichte“ . Der Antinazismus war dort ein von oben verordnetes politisches Programm und deshalb in Wahrheit wenig wirk­ sam, noch dazu, wo sich der Staat selbst auf einen diktatorischen Machtapparat stützte. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=