Literaturräume, Schulbuch
319 Der fokus Leben!“ , schreibt Anna Seghers stellvertretend in ihrem Roman „Transit“, den sie 1937 vor ihrer weiteren Flucht nach Mexiko in Südfrankreich begann. Exil: Entwurzelung, Selbstmord, Tod Manche Autoren traf auf der Flucht der Tod, wie den Philosophen Walter Benjamin beim Versuch, die Grenze des besetzten Frankreich nach Spanien zu überqueren. Manche ertrugen die Fremdheit der Emigration und das Abge schnittensein von ihrer Sprache und Kultur nicht und begingen im Exil Selbstmord, wie Stefan Zweig (1881–1942) und Kurt Tucholsky (18901935). Viele können sich dort, abge schnitten vom deutschen Sprachraum, mit ih ren Werken nicht durchsetzen oder sie nicht einmal veröffentlichen, wie zum Beispiel der Österreicher Albert Drach (1902–95), dessen 1939 geschriebener Roman „Protokoll gegen Zwetschkenbaum“ erst 1964 publiziert wird und nun als eines der wichtigsten Werke der Zwischenkriegszeit angesehen wird. Den Schock des Exils analysiert die nach England geflohene österreichische Autorin Hilde Spiel (1911–90). Hier ein Auszug aus ihrem Band „Das Haus der Sprache“ (1984): Auf der Suche nach Fluchtmöglichkeiten INFO Annoncen von Österreichern und Österreicherinnen im „Manchester Guardian“ vom 22. 4. 1939: Unhappy parents beg kindhearted people to take care of their Children (boy 12, girl 14) or one of them until parents are able to take them again. Guarantor asked for my mother, aged 67, still in Vienna: speaks also English and French: able to keep household [...] In Great Despair. Married Couple, with girl (11) and with affidavit to USA, implore benevolent persons to help by guarantee until visas will be given in October: woman (31), origin Catholic, very good in all housework, good dressma ker, man (40), Jew, clever, accept any kind of work: both adaptable, laborious. Das Exil ist eine Krankheit. Sie erfasst den Geist, das Gemüt, häufig auch den Körper, und sie ist unheil- bar oder selten heilbar, nicht einmal durch die Rückkehr ins eigene Land. Zu sehr ist der Emigrant, der Jahre oder Jahrzehnte in der weiten Welt verbracht hat, seinem Ursprung entfremdet, zu tief ist die Kluft, die Ausgewanderte und Daheimgeblie- bene trennt, um nicht immer wieder, manchmal erst nach geraumer und trügerisch harmonischer Zeit, von neuem aufzureißen. Man ist nirgendwo ganz zu Hause. Die Heimat ist Fremde geworden, und die Fremde nicht Heimat. 2 4 6 8 10 12 Was fast alle Exilautoren vereinte, war das Bewusstsein, weltweit eine Gegenkultur zu Nazideutschland zu reprä sentieren. Die folgenden Texte zeigen beispielhaft die psychische Situation der Exilautoren. Theodor Kramer (1897–1958) wurde in Niederösterreich geboren und musste 1939 emigrieren. Seine Mutter wurde im KZ Theresienstadt ermordet. Kramer kehrte 1957 aus dem Exil nach Österreich zurück. In seinem Nachlass fanden sich mehr als 10.000 Gedichte, meist aus der Zeit des Exils. Der Wiener Hans Schmeier (1925–43) musste mit 13 Jahren Österreich verlassen, seine Mutter wurde deportiert und ermordet. 1943 stürzte sich Schmeier in der Emigration vom Dach eines Hauses. Mascha Kaléko wurde als Tochter eines Russen und einer Österreicherin im heutigen Polen geboren, veröffentliche 1933 ihre ersten Gedichte, die als unerwünschte Literatur verbrannt wurden, emigrierte 1938 in die USA und übersiedelte 1966 nach Israel. 1 Blust: Blühen Theodor Kramer Ich bin froh, dass du schon tot bist, Vater Ich bin froh, dass du schon tot bist, Vater, dass du starbst, bevor die Horde kam, die mich schrubben ließ und mir im Prater am Kastanienblust 1 die Freude nahm. Ich bin froh, dass dich zum Spaß kein Bube zerrte je am langen weißen Bart, dass er nicht verwies dich auf die Stube; denn viel auszugehn war deine Art. […] Oft gebeugt schon, doch nicht untertänig, konnt ich retten mich ins fremde Land; buschig ist mein Haar wie deins, doch strähnig schon mit Grau durchsetzt, und taub die Hand, Doch zu rächen, was dir widerfahren hätte können, schreibt sie dies und das; und im Dorf, das ehrte dich nach Jahren, bringt dir, Vater, einst dein Sohn ein Glas. 2 4 6 8 10 12 14 16 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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