Literaturräume, Schulbuch

Ohne Canettis Frau Veza kein „Masse und Macht“ Dass „Masse und Macht“ nicht ohne Canettis Frau Veza entstanden wäre, hebt der Autor selbst hervor: „Ihr geistiger Anteil daran ist so groß wie meiner. Es gibt keine Silbe darin, die wir nicht zusammen bedacht und besprochen haben.“ Dass Veza Canetti (1897–1963) aber auch selbst eine bedeutende Autorin war, wurde erst in den 80erJahren des vergangenen Jahrhunderts entdeckt. Ein Literaturwissenschafter sprach Canetti auf Werke seiner Frau an. Canetti begann daraufhin langsam Vezas Werke aus ihrem Nachlass zu veröffentlichen. In seiner Autobiographie „Die Fackel im Ohr“ hatte Elias Canetti die Schönheit und Klugheit Vezas gerühmt, aber nichts über ihre literarische Arbeit verlauten lassen. 1990 erschien Veza Canettis Roman „Die gelbe Straße“, das Buch wurde inzwischen in 13 Sprachen übersetzt. Später folgten das Stück „Der Oger“ und die Erzählsammlung „Der Fund“. Thema von Veza Canettis Schreiben sind die vom Schicksal und den sozialen Umständen ins Abseits Gedrängten. eXkurs Der Justizpalastbrand, ein österreichischer Brennpunkt Ein Thema von Kraus bis Bachmann Im Jahr 1927 eskalierten in Österreich die Auseinandersetzungen zwischen den paramilitärischen Truppen der großen österreichischen Parteien, der christdemokratischen Heimwehr und dem sozialdemokratischen Schutz­ bund. Aufmärsche sollten als Machtdemonstrationen den politischen Gegner einschüchtern. Bei einer solchen Kundgebung wurden im burgenländischen Schattendorf ein Arbeiter und ein achtjähriger Bub von Mitgliedern des konservativen, monarchienostalgischen „Frontkämpferbundes“ erschossen. Als die Attentäter in einem Ge­ schworenenprozess überraschend freigesprochen wurden, demonstrierten in Wien die Arbeiter. Sie marschierten in die Innenstadt und setzten am 15. Juli 1927 den Justizpalast in Brand, um das Symbol der in ihren Augen un­ gerechten Justiz zu vernichten. Die Führer der Sozialdemokratie versuchten die Demonstranten zu zerstreuen und der Feuerwehr den Weg zu öffnen, aber ohne Erfolg. Daraufhin ließ die christlichsoziale Regierung durch den Wiener Polizeipräsidenten Schober Truppen gegen die Demonstranten einsetzen. 85 Demonstranten und 4 Polizisten starben. Der Widerhall in der Literatur war gewaltig. Karl Kraus veröffentlichte in der „Fackel“ Augenzeugenberichte, dass die Polizei wahllos auf Passanten geschossen habe, darunter auf Kinder und Unbe­ teiligte. Kraus startete in Wien eine Plakataktion gegen Schober – „Ich fordere Sie auf, abzutreten“ –, blieb aber erfolglos. Für Canetti wird der brennende Justizpalast zum zentralen Motiv von „Masse und Macht“. Das Feuer ist für ihn Symbol der Gerechtigkeit. Der altösterreichische Romancier und Essayist Manès Sperber (1905–84) beschreibt in seiner Autobiographie „All das Vergangene“ (1974–77) den Brand als ein Symbol des 20. Jahr­ hunderts. Der Romancier Heimito von Doderer (1896–1966) nimmt den Brand als Motiv seines Romans „Die Dämonen“ (1956) und interpretiert das Geschehen als Schlüsseldatum der österreichischen Geschichte. Quelle für Doderer ist vor allem Karl Kraus. Für Doderer ist es allerdings die anonyme Masse, die eine rechtmäßige De­ monstration zu einer verbrecherischen Handlung missbraucht und für die Folgen verantwortlich ist. Noch Inge­ borg Bachmann erwähnt in ihrem Roman „Malina“ (1971) das „tägliche Brennen des Justizpalastes“ und meint damit die Unzugänglichkeit der Gerechtigkeit. 317 Der leseraum | eXkurs AUFGABEN > Was ist das Ziel der „Hetzmasse“? Welche Gründe sieht Canetti für das rasche Wachsen von „Hetzmassen“? > Wie verhält sich der Einzelne in „Hetzmassen“? Welche politischen Ideologien setz(t)en auf „Hetzmassen“? – Informieren Sie sich in diesem Zusammenhang fächerübergreifend im Gegenstand „Geschichte“! > Welche zwei Formen von Gewalt übt die „Hetzmasse“ aus? > Welche Parallele sieht Canetti zwischen „Hetzmasse“ und Zeitungslektüre? Diskutieren Sie in der Klasse über Zustimmung bzw. Ablehnung dieser These Canettis! Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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