Literaturräume, Schulbuch
316 DIe lIteratur zWIschen 1925 unD 1945 Massen überall Die Massen erlebte Canetti auch wenig später beim Brand eines Hauses. Als Canetti mit seiner Familie 1911 nach Manchester übersiedelte, wurde er Zeuge von Massenemotionen nach dem Untergang der „Titanic“. Ähnliche Massen Eindrücke hatte Canetti dann in Wien, als er 1914 die Begeisterung über den Ausbruch des Krieges miterlebte. 1924 begann Canetti sein Studium an der Universität Wien, wo ihn auch Karl Kraus tief beeindruckte, den er im zweiten Band seiner Autobiographie, „Die Fackel im Ohr“, porträtiert. In Wien fasste Canetti die ersten Gedanken, ein Werk über die Masse zu schreiben. „Es war wie eine Erleuchtung. Ich beschloss, mein Leben der Erforschung der Masse zu widmen. Ich war von diesem Gedanken wie besessen, nichts vermochte mich da- von abzubringen.“ Ein bestimmendes Erlebnis in diese Richtung war für Canetti der 15. Juli 1927, als nach einer Demonstration der Wiener Justizpalast brannte. Canetti, Teilnehmer an der Demonstration, erinnert sich: „Ich wurde zu einem Teil der Masse, ich ging vollkommen in ihr auf, ich spürte nicht den leisesten Widerstand gegen das, was sie unternahm.“ Die Arten der Masse Nach Canettis Ansicht gibt es mehrere Arten von Massen. Sie unterscheiden sich durch das, was sie im Sinn haben. Zwei Hauptformen der Masse sind für Canetti die „Flucht“ und die „Hetzmasse“. Über die „Hetzmasse“ informiert Sie der folgende Abschnitt aus „Masse und Macht“, dem Werk, für das Canetti 1981 den Literatur nobelpreis bekam. Elias Canetti Die Hetzmasse bildet sich im Hinblick auf ein rasch erreichbares Ziel. Es ist ihr bekannt und genau bezeichnet, es ist auch nah. Sie ist aufs Töten aus, und sie weiß, wen sie töten will. Mit der Entschlos- senheit ohnegleichen geht sie auf dieses Ziel los […]. Es genügt, dieses Ziel bekannt zu geben, es genügt zu verbreiten, wer umkommen soll, damit eine Masse sich bildet. Die Konzentration aufs Töten ist eine besonderer Art und an Intensität durch keine andere zu übertreffen. Jeder will daran teilhaben, jeder schlägt zu. Um seinen Schlag führen zu können, drängt sich jeder in die nächste Nähe des Opfers. Wenn er nicht treffen kann, will er sehen, wie es von den anderen getroffen wird. […] Ein wichtiger Grund für das rapide Anwachsen der Hetzmasse ist die Gefahrlosigkeit des Unterneh- mens. Es ist gefahrlos, denn die Überlegenheit auf Seiten der Masse ist enorm. Das Opfer kann ihnen nichts anhaben. Es flieht oder ist gefesselt. Es kann nicht zuschlagen, in seiner Wehrlosigkeit ist es nur noch Opfer. Es ist aber auch für seinen Untergang freigegeben worden. Es ist zu seinem Schicksal bestimmt, für seinen Tod hat niemand eine Sanktion zu befürchten. […] Es ist ein so leichtes Unterneh- men und es spielt sich so rasch ab, dass man sich beeilen muss, um zurechtzukommen. Unter den Todesarten, die von einer Horde oder von einem Volk gegen den Einzelnen verhängt werden, kann man zwei Hauptformen unterscheiden: die eine ist die des Ausstoßens. Der Einzelne wird ausgesetzt, wo er wehrlos wilden Tieren ausgeliefert ist oder wo er verhungert. Die Menschen, zu denen er früher gehört hat, haben nichts mehr mit ihm zu tun; sie dürfen ihn nicht beherbergen und ihm keine Nahrung reichen. […] Die andere Form ist die des Zusammen-Tötens. Man führt den Verurteilten aufs Feld hinaus und steinigt ihn. Jeder hat am Töten teil; von den Steinen aller getroffen, bricht der Schuldige zusammen. Es ist niemand zum Hinrichter delegiert, die ganze Gemeinde tötet. […] Der Abscheu vor dem Zusammen-Töten ist ganz modernen Datums. Man überschätze ihn nicht. Auch heute nimmt jeder an öffentlichen Hinrich- tungen teil, durch die Zeitung. Man hat es nur, wie alles, viel bequemer. Man sitzt in Ruhe bei sich und kann unter hundert Einzelheiten bei denen verwei- len, die einen besonders erregen. […] [N]icht die leiseste Spur von Mitschuld trübt den Genuss. Man ist für nichts verantwortlich, nicht fürs Urteil, nicht für den Augenzeugen, nicht für seinen Bericht und auch nicht für die Zeitung, die den Bericht gedruckt hat. […] Im Publikum der Zeitungsleser hat sich eine gemilderte, aber durch ihre Distanz von den Ereignissen um so verantwortungslosere Hetzmasse am Leben erhalten, man wäre versucht zu sagen, ihre verächtlichste und zugleich stabilste Form. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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