Literaturräume, Schulbuch

Regen prasselte gegen ihr mattes Glas, als würfe der Himmel sandige Kiesel gegen arme große Glasmurmeln. Die Mäntel der Wachtposten vor den öffentlichen Gebäuden wehten, und die Schöße blähten sich, trotz der Nässe. Die aufgepflanzten Bajonette erschienen gar nicht echt, die Gewehre hingen halb schief an den Schultern der Leute. Es war, als wollten sich die Gewehre schlafen legen, müde, wie wir, von vier Jahren Schießen. Ich war keineswegs erstaunt, dass mich die Leute nicht grüßten, meine nackte Kappe, mein nackter Blusenkragen verpflichteten niemanden. Ich rebel- lierte nicht. Es war nur jämmerlich. Es war das Ende. Ich dachte an den alten Traum meines Vaters, den von einer dreifältigen Monar- chie, und, dass er mich dazu bestimmt hatte, einmal seinen Traum wirklich zu machen. Mein Vater lag begraben auf dem Hietzinger Friedhof, und der Kaiser Franz Joseph […] in der Kapuzinergruft. Ich war der Erbe, und der körnige Regen fiel über mich, und ich wanderte dem Hause meines Vaters und meiner Mutter zu. Ich machte einen Umweg. Ich ging an der Kapuzinergruft vorbei. Auch vor ihr ging ein Wachtposten auf und ab. Was hatte er noch zu bewachen? Die Sarkophage? Das Andenken? Die Geschichte? Ich, ein Erbe, ich blieb eine Weile vor der Kirche stehen. Der Posten kümmerte sich nicht um mich. Ich zog die Kappe. Dann ging ich weiter, dem väterlichen Hause zu, von einem Haus zum andern. 315 Der leseraum 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 Die Auslöschung der Republik Es ist das Jahr 1938. Die Nationalsozialisten okkupieren Österreich. Im Stammcafé, aus dem bei dieser Nachricht die letzten Freunde Hals über Kopf aufbrechen, bleibt Franz Ferdinand von Trotta allein zurück. Die Rollbalken fallen: „Ich war ausgeschaltet; ausgeschaltet war ich. Ausgeschaltet unter den Lebendigen bedeutet so etwas Ähn- liches wie: exterritorial. Ein Exterritorialer war ich eben unter den Lebenden.“ 9 „Ich beschloss, mein Leben der Erforschung der Masse zu widmen.“ Elias Canetti: „Masse und Macht“ (begonnen 1925, veröffentlicht 1960) Eine lebenslange Beschäftigung mit der Masse Den ersten starken Eindruck von Massen bekam Canetti als Kind beim Erscheinen des Halleyschen Kometen über seinem Heimatort Rustschuk im heutigen Bulgarien. Der ganze Ort versammelte sich, um den Kometen zu beobachten, „niemand wurde es müde und die Menschen standen weiter dicht beisammen. Ich sehe weder Vater noch Mutter dabei, ich sehe niemand von denen, die mein Leben ausmachten, vereinzelt. Ich sehe sie nur alle zu- sammen, und wenn ich das Wort nicht später so häufig gebraucht hätte, würde ich sagen, ich sehe sie als Masse: eine stockende Masse der Erwartung.“ Das Ende der Monarchie im Drama INFO Das bedeutendste Theaterstück, das den Zusammenbruch der Monarchie zumThema hat, ist „3. November 1918“ von Franz Theodor Csokor (1936). Die Handlung spielt in einem KriegsGenesungsheim in den Kärntner Karawanken. Der vergeb­ liche Kampf des Artillerieobersts von Radosin für die Erhaltung der ÖsterreichischUngarischen Monarchie und sein Selbstmord symbolisieren den Untergang des österreichischen Vielvölkerstaates nach dem Ersten Weltkrieg. Zum Begräbnis Radosins werfen alle seine Kameraden Erde auf seinen Sarg. Je nach ihrer Herkunft ist es „Erde aus Kärnten“, „Erde aus Polen“, „Erde aus Ungarn“, „Tschechische Erde“, „Slowenische Erde“, „Italienische Erde“. Nur der jüdische Regiments­ arzt Grün wirft „Erde aus Österreich“ auf den Sarg. AUFGABEN > Wozu dient der relativ ausführliche „Wetterbericht“? > Welches leitmotivische Schlüsselwort schildert den Zusammenbruch von Trottas Welt? Welche Meta­ phern verdeutlichen die Stimmung des Untergangs? AUFGABE > Schauen Sie sich auf DVD oder Video die Verfilmung von „Radetzkymarsch“ zum Beispiel unter der Regie von Axel Corti (1993/94) an! „Die Kapuzinergruft“ wurde 1971 von Johannes Schaaf verfilmt. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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