Literaturräume, Schulbuch

314 DIe lIteratur zWIschen 1925 unD 1945 26 28 30 dies war Heimat, stärker als nur ein Vaterland, weit und bunt, dennoch vertraut und Heimat: die kaiser- und königliche Monarchie. Der Bezirks- hauptmann Baron Grappik und der Oberst der Neu- ner Dragoner Földes, sie sprachen beide das gleiche näselnde […] Deutsch der besseren Stände, eine Sprache, hart und weich zugleich, als wären Slaven und Italiener die Gründer und Väter dieser Sprache, einer Sprache voller diskreter Ironie und voll graziöser Bereitschaft zur Harmlosigkeit […]. Es dauerte kaum eine Woche, und ich war in Zlotogrod ebenso heimisch, wie ich es in Sipolje, in Müglitz, in Brünn und in unserem Café Wimmerl in der Josefstadt gewesen war. 32 34 36 38 Keine unkritische Liebe zur Monarchie Das österreichische Heer, zumindest dessen Führung, jubelt, denn der Krieg von 1914 ist ausgebrochen. Er wird, so meint man, mit dem schnellen Sieg der Monarchie enden. Nur Trotta sieht die Schwächen Österreichs. Wir saßen nun wieder zusammen […]. Und gerade die Unbekümmertheit meiner Kameraden, mit der sie heute dem bevorstehenden Sieg ebenso zuju- belten, wie sie vor Jahren der nahenden Offiziers- Prüfung entgegengetrunken hatten, beleidigte mich tief. Damals mochte in mir die prophetische Ahnung sehr stark gewesen sein, die Ahnung, dass diese meine Kameraden wohl imstande seien, eine Offiziersprüfung zu bestehen, keineswegs aber einen Krieg. Zu sehr verwöhnt aufgewachsen waren sie in dem von den Kronländern der Monarchie unaufhör- lich gespeisten Wien, harmlose, beinahe lächerlich harmlose Kinder der verzärtelten, viel zu oft besungenen Haupt- und Residenzstadt, die einer glänzenden, verführerischen Spinne ähnlich, in der Mitte des gewaltigen, schwarzgelben Netzes saß und unaufhörlich Kraft und Saft und Glanz von den umliegenden Kronländern bezog. Von den Steuern, die mein armer Vetter, der Maronibrater Joseph Branco Trotta aus Sipolje, von den Steuern, die mein elendiglich lebender jüdischer Fiaker Manes Reisiger aus Zlotogrod bezahlten, lebten die stolzen Häuser am Ring, die der baronisierten jüdischen Familie Todesco gehörten, und die öffentlichen Gebäude, das Parlament, der Justizpalast, die Universität, die Bodenkreditanstalt, das Burgtheater, die Hofoper und sogar noch die Polizeidirektion. Die bunte Heiterkeit der Reichs-, Haupt- und Residenzstadt nährte sich ganz deutlich – mein Vater hatte es so oft gesagt – von der tragischen Liebe der Kronländer zu Österreich: der tragischen, weil ewig unerwiderten. Die Zigeuner der Puszta, die subkarpathischen Huzulen, die jüdischen Fiaker von Galizien, meine eigenen Verwandten, die slowenischen Maronibrater von Sipolje, die schwäbischen Tabakpflanzer aus der Bacska, die Pferdezüchter der Steppe, die osma- nischen Sibersna, jene von Bosnien und Herzegowi- na, die Pferdehändler aus der Hanakei in Mähren, die Weber aus dem Erzgebirge, die Müller und Korallenhändler aus Podolien: sie alle waren die großmütigen Nährer Österreichs; je ärmer, desto großmütiger. Die Auslöschung der Monarchie Im Jahr 1918 ist der Krieg für Österreich verloren. Der ehemalige Leutnant Trotta kehrt nach Wien zurück. Am Weihnachtsabend des Jahres 1918 kehrte ich heim. Elf zeigte die Uhr am Westbahnhof. Durch die Mariahilferstraße ging ich. Ein körniger Regen, missratener Schnee, kümmerlicher Bruder des Hagels, fiel in schrägen Strichen vom missgünstigen Himmel. Meine Kappe war nackt, man hatte ihr die Rosette abgerissen. Mein Kragen war nackt, man hatte ihm die Sterne abgerissen. Ich selbst war nackt. Die Steine waren nackt, die Mauern und die Dächer. Nackt waren die spärlichen Laternen. Der körnige 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 2 4 6 8 10 AUFGABE > Machen Sie eine Reise auf den Spuren Trottas, indem Sie versuchen, möglichst viele der angeführten Orte auf historischen oder geographischen Karten und/oder in Lexika wiederzufinden. Schließen Sie in Ihre Lokalisierungsversuche auch die im folgenden Textabschnitt genannten Regionen und Völker ein! AUFGABEN > Welche Ursachen sieht Trotta für den Untergang der Monarchie? > Wie bewertet Trotta das Verhältnis Wiens zu den Kronländern der Monarchie? Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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