Literaturräume, Schulbuch
313 Der leseraum drückte, hätte er beinahe gesungen vor Freude, die an seinem Unglauben rüttelte. Er stöberte durch das Schloss, aber schon krachten die Dielen und Fliesen unter seinem Tritt, als suchte er eine freudige Überraschung. Im Hof rief ihn ein Knecht an, wer er sei. Er fragte nach dem Gast. Fortgeritten, meldete der Knecht, wie der Mond heraufkam. Der Herr von Ketten setzte sich auf einen Stapel halbent- rindeter Hölzer, und die Wache wunderte sich, wie lang er saß. Plötzlich packte ihn die Gewissheit an, wenn er jetzt das Zimmer der Portugiesin wieder betrete, werde sie nicht mehr da sein. Er pochte heftig und trat ein; die junge Frau fuhr auf, als hätte sie im Traum darauf gewartet, und sah ihn angeklei- det vor sich stehn, so wie er fortgegangen war. Es war nichts bewiesen und nichts weggeschafft, aber sie fragte nicht, und er hätte nichts fragen können. 8 „Ein Exterritorialer war ich unter den Lebenden.“ Joseph Roth: „Die Kapuzinergruft“ (1938) Zweimal geht Österreich unter Joseph Roths „Kapuzinergruft“ beginnt unmittelbar vor dem Ersten Welt krieg und endet mit der Annexion Österreichs durch HitlerDeutschland. Die Hauptfigur, Leutnant Franz Ferdinand von Trotta, aus dessen Per spektive der Roman erzählt wird, erlebt zweimal den Untergang seines Österreich. Er ist der letzte Vertreter der altösterreichischen Familie Trotta, deren Schicksal Roth in seinem Roman „Radetzkymarsch“ über drei Generationen hinweg schildert. In der (realen) Schlacht von Solferino 1859 hatte der (fiktive) Leutnant Trotta, der berühmteste Spross der Familie, Kaiser Franz Joseph das Leben gerettet und war dafür geadelt worden. „Ra detzkymarsch“ endet im Jahr 1916, dem Todesjahr des Kaisers, und doku mentiert somit den Glanz und den Niedergang des Habsburgerreiches. „Die Kapuzinergruft“ schließt direkt an „Radetzkymarsch“ an. Der „Geist der Monarchie“ Kurz vor Kriegsausbruch unternimmt Franz Ferdinand von Trotta eine Reise durch die Monarchie. Was ihn dabei beeindruckt, sind die Elemente, welche die verschiedenen Völker verbinden, auch wenn das Gemeinsame manchmal vielleicht nur oberflächlich ist. Trotta erzählt: Joseph Roth Ich spreche vom missverstandenen und auch missbrauchten Geist der alten Monarchie, der da bewirkte, dass ich in Zlotogrod ebenso zu Hause war, wie in Sipolje, wie in Wien. Das einzige Kaffeehaus in Zlotogrod, das Café Habsburg, gelegen im Parterre des Hotels zum Goldenen Bären, in dem ich abgestiegen war, sah nicht anders aus, als das Café Wimmerl in der Josefstadt, wo ich gewohnt war, mich mit meinen Freunden am Nachmittag zu treffen. Auch hier saß hinter der Theke die wohlver- traute Kassiererin, so blond und so füllig wie zu meiner Zeit nur die Kassiererinnen sein konnten, eine Art biedere Göttin des Lasters, eine Sünde, die sich selbst preisgibt, indem sie sich nur andeutet, lüstern, verderblich und geschäftstüchtig lauernd zugleich. Desgleichen hatte ich schon in Agram, in Olmütz, in Brünn, in Kecskemet, in Szombathely, in Ödenburg, in Sternberg, in Müglitz gesehen. Die Schachbretter, die Dominosteine, die verrauchten Wände, die Gaslampen, der Küchentisch in der Ecke, in der Nähe der Toiletten, die blaugeschürzte Magd […] und die Tarockspieler mit den Kaiserbär- ten und den runden Manschetten, die sich jeden Tag pünktlich um die gleiche Stunde versammelten: all 66 68 70 72 74 76 78 80 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 AUFGABEN > Markieren Sie die Stellen, an denen der Autor die Spannung des Anstiegs und die Spannung der Entdeckung oder Nichtentdeckung von Portugiesin und Portugiesen sprachlich besonders hervorhebt! > In wessen Zimmer erreicht Ketten die Burg? Gelingt es Ketten, so etwas wie eine objektive Wahrheit zu finden? > Wer allein weiß um das tatsächlich Geschehene? Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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