Literaturräume, Schulbuch
312 DIe lIteratur zWIschen 1925 unD 1945 28 30 32 Gesellschaft der Menschen wich. Die Portugiesin beugte sich zärtlich über das Geschöpfchen, das in ihrem Schoß am Rücken lag und mit den winzigen Krallen nach ihren tändelnden Fingern schlug wie ein Kind, der junge Freund beugte sich lachend und tief über Katze und Schoß, und Herrn von Ketten erinnerte das zerstreute Spiel an seine halb überwun- dene Krankheit, als wäre die, samt ihrer Todessanft- heit in das Tierkörperchen verwandelt […]. Ein Knecht sagte: Die bekommt die Räude. Herr von Ketten wunderte sich, weil er das nicht selbst erkannt hatte; der Knecht wiederholte: Die muss man beizeiten erschlagen. 22 24 26 Das Urteil Ein Knecht tötet die Katze, deren ansteckende Räude sie zur Gefahr für die Burg macht. Die Portugiesin, der Portugiese und Ketten, alle drei sehen sie das Ende der Katze als Symbol für sich selbst. Hier das Ende der Er zählung: In einem solchen Augenblick begegneten sich Herr von Ketten und die Portugiesin. Sie blieben beiei- nander stehn, sahn nach den Hunden hinüber und fanden kein Wort. Das Zeichen war dagewesen, aber wie war es zu deuten, und was sollte geschehn? Eine Kuppel von Stille war um die beiden. Wenn sie ihn bis zum Abend nicht fortgeschickt hat, muss ich ihn töten – dachte Herr von Ketten. Aber der Abend kam, und es hatte sich nichts ereignet. Das Vesperbrot war vorbei. Ketten saß ernst, von leichtem Fieber gewärmt. Er ging in den Hof, sich zu kühlen, er blieb lange aus. Er vermochte den letzten Entschluss nicht zu finden, der ihm sein ganzes Dasein lang spielend leicht gewesen war. […] Und [da] gewann allmählich etwas anderes Raum: als Knabe hatte er immer die unersteigliche Fels- wand unter dem Schloss hinaufklettern wollen; es war ein unsinniger und selbstmörderischer Gedanke, aber er gewann dunkles Gefühl für sich wie ein Gottesurteil oder ein nahendes Wunder. […] Er schüttelte leise lachend den Kopf, um ihn auf den Schultern zu fühlen, aber dabei erkannte er sich weit unten auf dem steinigen Weg, der den Berg hinab- führte. Tief beim Fluss bog er ab; über Blöcke zwischen denen das Wasser trieb, dann an Büschen hinauf an die Wand. Der Mond zeichnete mit Schattenpunkten die kleinen Vertiefungen, in welche Finger und Zehen hineingreifen konnten. Plötzlich brach ein Stein unter dem Fuß weg; der Ruck schoss in die Sehnen, dann ins Herz. Ketten horchte; es schien ohne Ende zu dauern, bevor der Stein ins Wasser schlug; er musste mindestens ein Drittel der Wand schon unter sich haben. Da wachte er, so schien es deutlich, auf und wusste, was er getan hatte. Unten ankommen konnte nur ein Toter, und die Wand hinauf der Teufel. Er tastete suchend über sich. Bei jedem Griff hing das Leben in den zehn Riemchen der Fingersehnen; Schweiß trat aus der Stirn, Hitze flog im Körper, die Nerven wurden wie steinerne Fäden: aber, seltsam zu fühlen, begannen bei diesem Kampf mit dem Tod Kraft und Gesund- heit in die Glieder zu fließen, als kehrten sie von außen wieder in den Körper zurück. Und das Unwahrscheinliche gelang; noch musste oben einem Überhang nach der Seite ausgewichen sein; dann schlang sich der Arm in ein Fenster. Es wäre wohl anders, als bei diesem Fenster emporzutauchen, auch gar nicht möglich gewesen; aber er wusste, wo er war; er schwang sich hinein, saß auf der Brüstung und ließ die Beine ins Zimmer hängen. Mit der Kraft war die Wildheit wiedergekehrt. Er atmete sich aus. Seinen Dolch an der Seite hatte er nicht verloren. Es kam ihm vor, dass das Bett leer sei. Aber er wartete, bis sein Herz und seine Lungen völlig ruhig seien. Es kam ihm dabei immer deutlicher vor, dass er in dem Zimmer allein war. Er schlich zum Bett: es hatte in dieser Nacht niemand darin gelegen. Der Herr von Ketten schlich durch Zimmer, Gänge, Türen, die keiner zum erstenmal findet, der nicht geführt ist vor das Schlafgemach seiner Frau. Er lauschte und wartete, aber kein Flüstern verriet sich. Er glitt hinein; die Portugiesin atmete sanft im Schlaf; er bückte sich in dunkle Ecken, tastete an Wänden und als er sich wieder aus dem Zimmer 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 AUFGABE > Lässt der Text Ihrer Ansicht nach auf eine intime Beziehung zwischen Portugiesin und Jugendfreund schließen oder bleibt die Intensität der Beziehung für die Leser/Leserinnen – und den Herrn von Ketten – ungewiss? Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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