Literaturräume, Schulbuch
5 „Was ist Minne?“ Walther von der Vogelweide: „Saget mir ieman, waz ist minne?“ und „Under der linden“ (um 1205) Viele Orte möchten Walther Walther von der Vogelweide und Reinmar von Hagenau sind die bedeu tendsten Lyriker am Wiener Babenbergerhof. Walthers Herkunft ist un klar. Seit dem 19. Jahrhundert stritten sich – über weite Teile des deut schen Sprachraumes verteilt – dutzende Landschaften und Orte, wo es die Gelände oder Höfebezeichnungen „Vogelweide“ gab, darum, Ge burtsort des Dichters zu sein. Lange wurde ein Vogelweiderhof im Süd tiroler Eisacktal als Geburtsort angesehen. In jüngster Zeit haben For schungen aufhorchen lassen, die das Gebiet um Zwettl im Waldviertel als seine Heimat wahrscheinlich machen. In Wien ist er zunächst Schüler Reinmars, bald aber sein Kontrahent. Die Fehde hatte wohl stark persön liche Gründe: Zwei Lyriker als „Angestellte“ an einem nicht allzu großen Fürstenhof konnten leicht in ein Konkurrenzverhältnis geraten. Walthers Streit mit Reinmar Vor allem aber stellt Walther Ziel und Sinn von Reinmars Gedichten in Frage, in denen die Werbung um die an gebetete Dame stets vergeblich bleibt. In seinen „Mädchenliedern“ feiert Walther Minne als Ausdruck gegensei tiger Zuneigung. Nicht die unerreichbare adelige „frouwe“ wird besungen, sondern das konkrete „wîp“, die junge „maget“ und das „frouwelîn“ , jedoch mit Empfindsamkeit und Zurückhaltung. Damit distanziert er sich auch deutlich von durchaus üblichen Machenschaf ten, manche Frauen aus den Dörfern zum Ob jekt ritterlicher Sexualität zu erniedrigen. Zwi schen hoher Minne und niederer Minne sucht Walther den Weg der ebenen Minne als Ideal. Die junge Frau bei Walther bleibt immer „ein kint, daz êre hat“ . Zwei Gedichte zeigen Ihnen Walthers Minneauffassung: das erste in mittel hochdeutscher Originalsprache und neuhoch deutscher Übertragung, das zweite, das ver mutlich bekannteste Minnelied des Hochmit telalters, in Mittelhochdeutsch mit „Übertra gungshilfen“. 31 Der leseraum Saget mir ieman, waz ist minne? Saget mir ieman, waz ist minne? weiz ich des ein teil, sô wist ichs gerne mê. […] minne ist minne, tuot si wol: tuot si wê, so enheizet si niht rehte minne. sus enweiz ich wie si danne heizen sol. Obe ich rehte râten künne waz diu minne si, sô sprechet denne jâ. minne ist zweier herzen wünne: teilent sie gelîche, sost diu minne dâ. […] Kann mir jemand sagen, was Liebe ist? Weiß ich auch etwas darüber, so wüsste ich gern noch mehr. Liebe ist Liebe, wenn sie angenehm ist. Tut sie weh, dann nennt man sie zu Unrecht Liebe. In diesem Falle aber weiß ich nicht, wie man sie nennen soll. Sollte ich es richtig erraten haben, was Liebe ist, dann ruft „ja!“ Liebe ist zweier Herzen Freude. Teilen beide gleich, dann ist die Liebe da. > Welche Art von Beziehung soll laut Walther einzig Minne/Liebe genannt werden? AUFGABE Dichter und Urkunden INFO In einer einzigen Urkunde ist Walther erwähnt: Der Bischof von Passau lässt aufzeichnen, dass er am 12. November 1203 dem „Sänger“ Walther von der Vogelweide bei Zeiselmauer im niederösterreichischen Donautal fünf Schillinge für einen Pelzmantel geschenkt hat – ein beachtliches Geschenk für einen Künstler. Gottfried und Wolfram erscheinen in überhaupt keiner Urkunde, vom Verfasser des Nibelungen liedes, dem bedeutendsten Werk der Heldenepik, kennen wir nicht einmal den Namen. Das ist kein Zufall, die Urkunden des Mittelalters wurden mit politischen, juridischen und kriegerischen Ereignissen gefüllt, nicht mit Erwähnungen von Künstlern. Walther von der Vogelweide 2 4 6 8 2 4 6 8 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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