Literaturräume, Schulbuch
308 die literatur zwischen 1925 und 1945 5 „Das Erstaunliche war, dass er eben versucht hatte, einen anderen zu töten, kalt, klar und äußerst bewusst.“ Ernst Jünger: „In Stahlgewittern“ (1920) und „Sturm“ (1923) Eine Verherrlichung des Krieges? Bis heute wird über Ernst Jünger und sein Werk heftig diskutiert. Unzweifelhaft gibt es in seinen frühen Werken wie „In Stahlgewittern“ und „Sturm“ Stellen, die als Verherrlichung des Krieges gelten müssen, in dem Tapferkeit, der Kampf ebenbürtiger Gegner, Opferbereitschaft und Ritterlichkeit zu finden seien. Zwar konfrontiert Jünger die Leser detailliert aus seinem eigenen Erleben mit dem Grauen, aber, wie ihm Kritiker vorwerfen, nicht um davor zu warnen, sondern um daraus ein ästhetisches Sprachkunstwerk zu machen. Überdies sehe Jünger das Töten als eine Art von sportlichem Duell. Jünger warnt aber auch davor, dass der Krieg den Menschen anonymen Kräften ausliefert und zum „Kanonenfutter“ macht. Seine späteren Werke wie „Auf den Marmorklippen“ (1939) wenden sich eindeutig gegen Gewalt, Totalitarismus, Krieg. Das NS-Regime versuchte den Autor durch angebo tene Ämter und Würden für sich zu gewinnen, Jünger lehnte jedoch ab. 1944 knüpfte er Beziehungen zum Wi derstand gegen Hitler und wurde deshalb aus der Armee entlassen. „In Stahlgewittern“ und „Sturm“ schildern Jüngers Kriegserlebnisse aus den Schützengräben der Front in Frankreich von Jänner 1915 bis August 1918. Ausschnitt 1, „Sturm“ Man schleuderte sich den Tod zu, ohne sich zu sehen; man wurde getroffen, ohne zu wissen, woher es kam. Längst hatte der Präzisionsschuss des geschulten Schützen, das direkte Feuer der Ge- schütze und damit der Reiz des Duells dem Massen- feuer der Maschinengewehre und der geballten Artilleriegruppen weichen müssen. Die Entschei- dung lief auf ein Rechenexempel hinaus: Wer eine bestimmte Anzahl von Quadratmetern mit der größeren Geschossmenge überschütten konnte, hielt den Sieg in der Faust. Eine brutale Begegnung von Massen war die Schlacht, ein blutiger Ringkampf der Produktion und des Materials. Ausschnitt 2, „Sturm“ Auch heute war wieder das Unglaubliche geschehen. Er hatte in seiner glühenden Mulde gelegen, regungslos, eine Stunde lang, nichts im Auge als eine scharfe Biegung der langen, schmalen Erdlinie, die sich jenseits aus dem Grase hob. Es war dort eine Stelle, an der man alle zwei Stunden sekundenlang die Ablösung eines englischen Postens zu Gesicht bekam. Richtig, auch diesmal hatte er nicht verge- bens gelegen, eben war drüben ein gelber Husch an der Erdkrone vorübergestreift. Der aufziehende Posten – nun musste gleich der abgelöste an derselben Ecke vorbei. Sturm prüfte noch einmal das Visier, entsicherte und richtete ein. Jetzt war es da: ein Kopf unter flachem, graugrünem Helm und ein Stück Schulter, überragt von der Mündung des umgehängten Gewehrs. Sturm zögerte, als der Kopf auf dem Schnittpunkt des Fernrohrfadenkreuzes stand. Das Land lag wieder ruhig und tot, nur die weißen Schierlingsdolden zitterten vor Glanz. Hatte er getroffen? Er wusste es nicht. Doch ob der Mensch da drüben jetzt den Lehm der Grabensohle rot färbte oder nicht, das war nicht das, was hier in Frage stand. Das Erstaunliche war, dass er, Sturm, eben versucht hatte, einen anderen zu töten, kalt, klar und äußerst bewusst. Und wieder drängte sich ihm die Frage auf: War er noch derselbe wie vor einem Jahr? der Mann, der noch kürzlich an einer Doktorarbeit „Über die Vermehrung der Amoeba proteus durch künstliche Teilung“ geschrieben hatte? War ein größerer Gegensatz denkbar als zwischen einem Menschen, der sich liebevoll in Zustände versenkte, in denen das noch flüssige Leben sich um winzige Kerne ballte, und einem, der kaltblütig auf höchstentwickelte Wesen schoss? Denn der da drüben konnte ebensogut in Oxford studiert haben wie er in Heidelberg. Ja, er war ein ganz anderer geworden, anders nicht nur in der Tat, sondern – und das war das Wesentliche – auch im Gefühl. Denn dass er auch nicht einen Augenblick Reue, sondern eher Befriedigung empfand, das deutete auf eine im tiefsten verwandelte Sittlichkeit. Und das ging Unzähligen so, die sich längs der Unermesslich- keit der Fronten beschlichen […]. Ausschnitt 3, „Sturm“ Krieg war wie Sturm, Hagel und Blitz, er stampfte ins Leben, achtlos wohin. In den Tropen gab es Wirbelwinde, die wie wilde Tiere durch die unge- heuren Wälder rasten. Sie knickten gefiederte Palmenbäume oder rissen sie mit den Wurzeln aus und stießen andere damit zu Boden. Sie fegten die großen, nach Vanille duftenden Orchideen von den Zweigen und töteten Scharen der funkelnden Kolibris. Sie schwemmten unsäglich bunten 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=