Literaturräume, Schulbuch

Szene 4 Frau Amtsgerichtsrat: Mich geht es ja nichts an, aber vorbestraft ist immer schon arg. Elisabeth sagt es auf wie ein Schulmädchen: Ich bin vorbestraft, weil ich ohne Wandergewerbeschein gearbeitet habe – und da hat man mir eine Geldstrafe von einhundertundfünfzig Mark hinaufgehaut, bezahlbar in Raten. Aber dann ist alles fällig geworden und ich hätt dafür in das Gefängnis müssen und meine Zukunft wäre wieder in das Wasser gefallen – und so habe ich dafür dem Herrn Präparator sein Geld aufge- braucht. Frau Amtsgerichtsrat: Also tuns nur nicht viel leugnen und zeigens Ihnen nicht gescheiter als wie der Richter ist. Mein Mann ist ja ein braver Mensch, aber tuns die Verhandlung nur ja nicht in die Länge ziehn durch unnötige Verteidigung!! Wenn ich zuhaus beim Mittagessen sitz und vergeblich auf ihn wart und er kann nicht weg, weil die Sitzung so lang dauert, dann hört auch bei ihm das Verständnis auf – Wissens, die Angeklagten müssen halt auch ein Einsehen haben, dass schließlich der Richter auch nur ein Mensch ist. 307 Der leseraum 184 186 188 190 192 194 196 198 200 202 204 206 Elisabeth wird zu vierzehn Tagen Gefängnis verurteilt. Auf dem Sozialamt lernt sie den Polizisten Alfons Klostermeyer kennen, der ihr die Ehe ver­ spricht. Sie wird seine Braut und lebt mit ihm zusammen, bis er erfährt, dass sie vorbestraft ist, und sie aus Angst vor Karriereschwierigkeiten ver­ lässt. An einem Novemberabend wird Elisabeth auf die Polizeiwache ge­ tragen. Sie hat sich aus Hunger und Verzweiflung in den Fluss gestürzt, wur­ de aber noch lebend herausgezogen: „Ich bin doch nur ins Wasser, weil ich nichts mehr zum Fressen hab […]!“ Während man ihren „tollkühnen Lebensretter“ feiert, stirbt Elisabeth. Niemand fühlt sich an ihrem Tod schul­ dig. Unbeeindruckt gehen alle zu einer vaterländischen Parade, von der die Musik des Marsches „Alte Kameraden“ herübertönt. Nichts beschönigen, nichts „verhässlichen“ Horváth stellt der Buchausgabe des Dramas eine „Randbemerkung“ voraus, welche die Absicht des Stückes erklärt. Daraus drei Feststellungen: Wie in allen meinen Stücken habe ich mich auch bei diesem kleinen Totentanz befleißigt, es nicht zu vergessen, dass dieser aussichtslose Kampf des Individuums auf bestialischen Trieben basiert […]. Wie in allen meinen Stücken habe ich auch diesmal nichts beschönigt und nichts verhässlicht. […] Wie in allen meinen Stücken versuchte ich auch diesmal, möglichst rücksichtslos gegen Dummheit und Lüge zu sein, denn diese Rücksichtslosigkeit dürfte wohl die vornehmste Aufgabe eines […] Schriftstellers darstellen, der es sich manchmal einbildet, nur deshalb zu schreiben, damit die Leut sich selbst erkennen. Erkenne dich bitte selbst! Die großen Fallen für die kleinen Leute INFO Horváths Drama beruht auf einer wahren Begebenheit. Im Frühjahr 1932 richtet der Münchner Gerichtsreporter Kristl an Ödön von Horváth die Frage, wieso das Theater immer nur Aufsehen erregende Fälle behandle. Die Umstände des alltäglichen Lebens, in denen sich der Mensch oft verfängt, seien ebenso dramatisch und außerdem die Regel. Kristl vereinbart mit Horváth, ihm den Stoff für das Drama der kleinen Leute zu liefern. Die 29jährige Klara Gramm, die ihr Leben als Handlungsreisende für Miederwaren sichern musste, wurde aus denselben Gründen wegen „Betruges“ zu drei Monaten Gefängnis verurteilt wie Elisabeth in Horváths Stück. Klara Gramm überlebte allerdings. Sie übte ihren Beruf bis 1969 aus und starb 1979. 2 4 6 8 AUFGABEN > Zu Szene 1, 2 : Beschreiben Sie das unterschiedliche Verhalten der Prantl zur Frau Amtsgerichtsrat und zu Elisabeth. Wie zeigen sich diese Unterschiede in der Sprache der Prantl? Was ist für die Prantl ausschlag­ gebend, um jemanden „positiv“ zu beurteilen? > Zu Szene 3, 4 : Wie verhält sich die Prantl zum Präparator? Suchen Sie Beispiele für die „gestelzte“, phrasenhafte Sprache der Frau Amtsgerichtsrat! > Zu Szene 4 : In welchem unlösbaren Problemzirkel befindet sich Elisabeth? AUFGABE > Welche Selbsterkenntnis sollte die Prantl aus dem Stück ziehen, welche die Frau Amtsgerichtsrat, welche Erkenntnis gäbe es für Elisabeth? Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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