Literaturräume, Schulbuch

304 DIe lIteratur zWIschen 1925 unD 1945 Bibeltexte ihnen verleihen können. Es ist ihnen versichert worden, daß das Auge der Gottheit auf ihnen liegt, forschend, ja beinahe angstvoll; daß das ganze Welttheater um sie aufgebaut ist, damit sie, die Agierenden, in ihren großen oder kleinen Rollen sich bewähren können. Was würden meine Leute sagen, wenn sie von mir erführen, daß sie sich auf einem kleinen Steinklumpen befinden, der sich unaufhörlich drehend im leeren Raum um ein anderes Gestirn bewegt, einer unter sehr vielen, ein ziemlich unbedeutender! Wozu ist jetzt noch solche Geduld, solches Einverständnis in ihr Elend nötig oder gut? Wozu ist die Heilige Schrift noch gut, die alles erklärt und als notwendig begründet hat, den Schweiß, die Geduld, den Hunger, die Unterwerfung, und die jetzt voll von Irrtümern befunden wird? Nein, ich sehe ihre Blicke scheu werden, ich sehe sie die Löffel auf die Herdplatte senken, ich sehe, wie sie sich verraten und betrogen fühlen. Es liegt also kein Auge auf uns, sagen sie. Wir müssen nach uns selber sehen, ungelehrt, alt und verbraucht, wie wir sind? Niemand hat uns eine Rolle zugedacht außer dieser irdischen, jämmerlichen auf einem winzigen Gestirn, das ganz unselbstän- dig ist, um das sich nichts dreht? Kein Sinn liegt in unserem Elend, Hunger ist eben Nichtgeges- senhaben, keine Kraftprobe; Anstrengung ist eben Sichbücken und Schleppen, kein Verdienst. Verstehen Sie da, daß ich aus dem Dekret der Heiligen Kongregation ein edles mütterliches Mitleid, eine große Seelengüte herauslese? Galilei: Seelengüte! […] Ihre Campagnabauern bezahlen die Kriege, die der Stellvertreter des milden Jesus in Spanien und Deutschland führt. Warum stellt er die Erde in den Mittelpunkt des Universums? Damit der Stuhl Petri im Mittel- punkt der Erde stehen kann! Um das letztere handelt es sich. Sie haben recht, es handelt sich nicht um die Planeten, sondern um die Campagnabauern. […] Der kleine Mönch in großer Bewegung: Es sind die allerhöchsten Beweggründe, die uns schweigen machen müssen, es ist der Seelenfrieden Unglücklicher! 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 4 „Rücksichtslos gegen Dummheit und Lüge“ Ödön von Horváth: „Glaube Liebe Hoffnung. Ein kleiner Totentanz in fünf Bildern“ (1933) Das Drama der kleinen Leute Glaube, Liebe, Hoffnung sind für die christliche Religion die höchsten Tu­ genden. Sie führen zu Glückseligkeit und ewigem Leben. Ganz anders ist das allerdings in den Dramen Horváths. Seine Stücke führen gesellschaft­ liche Verhältnisse vor, in denen gerade diejenigen untergehen, die glau­ ben, lieben und hoffen. Die Feigen und Korrupten leben nicht nur unge­ hindert weiter, sie haben auch Erfolg. Der Untertitel von „Glaube Liebe Hoffnung“ symbolisiert die unaufhaltsam aufeinander folgenden Stati­ onen des Leidenswegs eines durch wirtschaftliche Not und Mitmenschen erdrückten Menschen. Ödön von Horváth AUFGABEN > Welche Argumente führen der Mönch und Galilei jeweils für Ihre Position an? > In welchen Bereichen der Naturwissenschaft sollte man Ihrer Meinung nach Grenzen setzen? Lassen Sie sich zu einer Diskussion darüber anregen von einem Satz aus dem Drama „Die Physiker“ von Friedrich Dürrenmatt (1962), in dem der Autor die Verantwortung der Wissenschaft für nicht mehr möglich hält: „Unsere Wissenschaft ist schrecklich geworden, unsere Forschung gefährlich, unsere Erkenntnis tödlich. Es gibt für uns Physiker nur mehr die Kapitulation vor der Wirklichkeit. Sie ist uns nicht gewachsen. Sie geht an uns zugrunde. Wir müssen unser Wissen zurücknehmen.“ > Können Ihrer Ansicht nach wissenschaftliche Erkenntnisse überhaupt „zurückgenommen“ werden? Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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