Literaturräume, Schulbuch
303 Der leseraum 3 „Denn die alte Zeit ist herum, und es ist eine neue Zeit.“ Bertolt Brecht: „Leben des Galilei“ (Erstfassung 1938/39; Überarbeitungen bis 1955) Wieso Galilei? Galileo Galilei (1564–1642), der dem von Kopernikus entwickelten heliozentrischen Weltbild zum Durchbruch verhalf, ist für Brecht ein Symbol dafür, dass die Wahrheit auch unter diktatorischen Bedingungen ans Licht kom men kann. Auch das, was „seit jeher“ gegolten hat, kann nicht auf Dauer standhalten, wenn es falsch ist. Galilei – ein zweideutiger Charakter Der Druck der Kirche auf Galilei ist groß. Es droht ihm, als Ketzer verbrannt zu werden, sollte er weiterhin das heliozentrische Weltbild verbreiten. Es kommt zum Prozess, Galilei fügt sich. Brecht zeichnet Galilei selbst nicht nur als wenig mutig, sondern auch als äußerst fresssüchtig. Ohne Zweifel versucht Brecht mit dieser Zweideutig keit, welche die Hauptfiguren vieler seiner Stücke bestimmt – extrem etwa Mutter Courage –, die Identifikation des Publikums mit den Personen zu verhindern. Die Verantwortung der Wissenschaft „Das Leben des Galilei“ liegt in drei Fassungen vor, die letzte wurde erst 1957, nach Brechts Tod, aufgeführt. Unter dem Eindruck der Zündung von Atom und Wasserstoffbombe betont Brecht die Verantwortung des Wissen schafters. Auch die Wissenschaft darf die Menschen nicht mit ihren Erkenntnissen überrollen, das Umdenken im einfachen Volk, das jahrhundertelang bevormundet worden ist, kann nicht mit einem Schlag erreicht werden. Der politisch engagierte Brecht versteht die Ängste des Volkes vor der Umwälzung seines Weltbildes genauso, wie er darauf hinweist, dass die Umwälzung notwendig ist. Brecht weigert sich, Patentlösungen für Konflikte anzugeben. Das würde dem Wesen seines Theaters widersprechen, das Widersprüche aufdecken und zum Denken provozie ren soll. Im folgenden Auszug ist die Begegnung Galileis mit einem Mönch dargestellt, der Galilei vom Beschluss der Kirchenbehörde, der Heiligen Kongregation, informiert, die heliozentrische Lehre zu verurteilen. Der kleine Mönch: Erlauben Sie, daß ich von mir rede. Ich bin als Sohn von Bauern in der Campagna aufgewachsen. Es sind einfache Leute. Sie wissen alles über den Ölbaum, aber sonst recht wenig. […] Es geht ihnen nicht gut, aber selbst in ihrem Unglück liegt eine gewisse Ordnung verborgen. Da sind diese verschiedenen Kreisläufe, von dem des Bodenaufwischens über den der Jahreszeiten im Ölfeld zu dem der Steuerzahlung. Es ist regelmäßig, was auf sie herabstößt an Unfällen. Der Rücken meines Vaters wird zusammengedrückt nicht auf einmal, sondern mit jedem Frühjahr im Ölfeld mehr, so wie auch die Geburten, die meine Mutter immer geschlechtsloser gemacht haben, in ganz be- stimmten Abständen erfolgten. Sie schöpfen die Kraft, ihre Körbe schweißtriefend den steinigen Pfad hinaufzuschleppen, Kinder zu gebären, ja zu essen, aus dem Gefühl der Stetigkeit und Not- wendigkeit, das der Anblick des Bodens, der jedes Jahr von neuem grünenden Bäume, der kleinen Kirche und das Anhören der sonntäglichen 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 AUFGABEN > Zu „Schlechte Zeit für Lyrik“: Welches Stilmittel prägt das Gedicht? Über welche Themen würde Brecht „lieber“ ein Gedicht schreiben? Was aber hindert ihn daran? Würden Sie unsere Zeit als „gute Zeit“ für Lyrik ansehen? Begründen Sie Ihr Urteil! > Welche Argumente führt Walter Helmut Fritz in seinem Gedicht, das man als „ÖkoLyrik“ bezeichnen könnte, dafür an, dass es wieder notwendig sei, über Bäume zu schreiben? Welcher Vers bezieht sich direkt auf Brecht? > Zu „Morgens und abends zu lesen“: Präzisieren Sie in Schlagworten den Unterschied zwischen dem Brechtgedicht und einem traditionellen Liebesgedicht! Setzen Sie das Liebesgedicht Brechts ab Vers 4 fort! Führen Sie an, was Sie tun würden, wenn Ihnen jemand mitteilt, dass er Sie braucht: „Darum …“ Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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